Predigt zum 31. Sonntag im Lesejahr B 2000 (Markus)
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5. November 2000 - khg St. Nikolai, Göttingen
1. Die Schwierigkeit zu lieben
- Was mag jemand von Liebe verstehen, der die Regel aufstellt, man solle seinen Nächsten lieben wie sich selbst? Hat man da ein
Kribbeln im Bauch? Oder: Was ist von dem Gebot der Gottesliebe zu halten? Ist ein so emotionales Wort wie Liebe der
angemessene Ausdruck, um das Verhältnis zu Gott auszudrücken?
Ich habe den Eindruck, dass viele die Beziehung zu Gott sehr ambivalent
erleben. Einerseits suchen sie etwas wie einen
Bezugspunkt in ihrem Leben und vor allem auch Geborgenheit. Gott ist der
Projektionspunkt für die Möglichkeit einer gelungenen Beziehung.
Auf der anderen Seite erfahren sie den Anspruch nicht zuletzt der
Gottes- und Nächstenliebe schlicht als Überlastung. Gerade weil
es eine so unzweifelhaft positive Sache ist, die Gottes- und
Nächstenliebe, ist es besonders frustrierend, wenn ich die Erfahrung
mache, dass es Situationen gibt, in denen ich weder Gott, noch meinen
Nächsten (in der Allgemeinheit) zu lieben in der Lage bin.
- Dasselbe dürfte sich für viele in ihrem Verhältnis zu
Gottesdienst und Gemeinde spiegeln. Irgend etwas suche und erwarte ich,
wenn
ich herkomme, um am Gottesdienst teilzunehmen; dass es in einer und
vielleicht in dieser Gemeinde stattfindet, dürfte dabei eine
nicht unerhebliche Rolle spielen.
Aber andererseits muss man damit rechnen, dass dadurch auch eine Anforderung an mich entsteht. Nächstenliebe ist eine
ambivalente Sache.
- "Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst". Es gibt einen Ausweg dieses Gebot zu retten: Das "...wie dich selbst", so kann
man häufig lesen, bedeute doch, dass man zunächst einmal sich selbst lieben müsse.
Damit ist die Auslegung des biblischen Gebotes bei einer vollkommen
richtigen Erkenntnis angelangt. Bemerkenswert, denn der
Ausgangspunkt war falsch. Es ist tröstlich zu sehen, dass falsche
Bibelauslegung trotzdem zu ganz richtigen Erkenntnissen gelangen
kann.
2. Ein Vertragstext
- Denn mit der feinsinnigen psychologischen Überlegung, was Bedingung des Liebens sei, hat es dieser Bibeltext überhaupt nicht zu
tun. Ja, mit fass allem, was wir mit "Liebe" assoziieren hat der Text nichts zu tun.
Was wir heute beim Zuhören nicht mehr erkennen, war dem Volk damals ganz
bewusst. Die Sprache der Lesung, die wir gehört
haben, war den Menschen bekannt. Es ist die Sprache eines
Vertragstextes. Wer heutigentags Verträge liest, findet allenfalls in
der
Präambel noch etwas von dem feierlichen Ton, der damals in Verträgen
benutzt wurde.
Das Buch Deuteronomium überliefert uns den Text des Vertrages, den Gott, der Schöpfer der Welt, mit einem Volk schließt, das er
sich auserwählt hat. Wenn man diesen Text mit anderen Texten der Zeit vergleicht, erkennt man sofort: Hier werden bewusst
Formulierungen gebraucht, mit denen ein Großkönig einen Beistandsvertrag mit Vasallenvölker schließt.
Darin liegt der Sprengstoff des Glaubens Israels. Wo andere Völker Großkönigen unterworfen werden, dort schließt das Volk Israel
einen Vertrag mit Gott. Nicht die Babylonischen, assyrischen, ägyptischen oder sonstigen Großkönige sind letzter Bezugspunkt,
nicht ihre Götter und Gottheiten sind Israel verbindlich, sondern Gott, Gott ausschließlich: "DER HERR ist einzig".
- Recht und Liebe stehen hier nicht im Gegensatz zu einander. Das Juristische in der Konzeption der Gottesbeziehung dürfen wir nicht
voreilig abwerten. Wir sind natürlich versucht, hier etwa vom Gegensatz "Rechtskirche-Liebeskirche" auszugehen und das Wort
"Rechtskirche" dabei mit negativen Wertungen zu behaften.
Aber im alten Israel ging es nicht um diesen Gegensatz. Durch die juristischen Kategorien hob sich Israels Religion ab von den
naturmythologisch bestimmten Religionen der damaligen Welt. Erst die juristischen Kategorien ermöglichten es, Gott in seiner
Personalität, Freiheit, Geschichtswirksamkeit und Welttranszendenz zu begegnen. Durch sie wurde das Vage, Kosmisch-Numinose
und Zyklisch-Schicksalhafte der mythischen Religiosität überwunden.
- Die zentrale Forderung des Bundes - Gott zu lieben aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und aus ganzer Kraft -, die uns so völlig
unjuristisch klingt, stammt sogar im Wortlaut aus der Rechtssprache der Staatskanzleien des 2. Jahrtausends v. Chr. Wir haben
Parallelen die deutlich zeigen, dass hier bewusst der Bund (!) Gottes mit seinem Volk in Formen ausgedrückt wird, die der Sphäre
des Juristischen entnommen sind.
Somit ist das "Lieben" des Gebotes Ausdruck des festen Willens,
einander beizustehen, den Bundesvertrag nicht auf die leichte
Schulter zu nehmen, sondern ihn zutiefst zu verinnerlichen, ihn sich in
das Herz und ins Gedächtnis zu schreiben, die Seele davon
ergriffen sein zu lassen: Dies ist der Bund, der zur Grundlage meines
Lebens wird.
3. Das Gebot leben
- Im Unterschied zur Bergpredigt wird in der Diskussion hier nicht
darauf verwiesen, dass wir auch lieben sollen, wenn
Gegenseitigkeit fehlt. Da hier Gottes- und Nächstenliebe parallelisiert
werden, wäre das auch unsinnig. Denn wie die Gottesliebe die
Bündnistreue zu Gott meint, so meint die Nächstenliebe die Treue zu
denen, die mit mir zu einem Volk gehören. Es geht bei der
Nächstenliebe in dem Kontext des Doppelgebotes ganz klar nicht um
Feindesliebe, sondern um die Verlässlichkeit und Treue
gegenüber denen, die mit mir ein Volk sind.
Das ist nicht wenig, denn leicht wird aus dem Volk ausgemerzt, wird vergessen oder an den Rand gedrängt, wer schwach ist oder
Hilfe braucht. Dass auch hier Solidarität greifen muss, ist Sinn des Gebotes der Nächstenliebe.
- In der Bergpredigt dagegen ist nicht nur von der Nächstenliebe die
Rede. Dort wird ausdrücklich die Gegenseitigkeit von Liebe, also
die eben von mir beschriebene Gegenseitigkeit geleugnet: Auch die, die
uns nicht lieben, sollen wir lieben.
Das Gebot, meinen Feind zu lieben, macht endgültig deutlich, dass mit "Liebe" hier nicht Kribbeln im Bauch gemeint ist. Wenn das
Gebot wäre, den, dem ich Feind bin - oder: den, der mir Feind ist - zu lieben, dann wäre das die Garantie, dass ich jeden Tag gegen
dieses Gebot fundamental verstoße.
- Aber die Bergpredigt meint mit der Nächstenliebe genauso wenig wie mit der Feindesliebe Romantisches, sondern Praktisches.
Wenn Jesus an anderer Stelle gefragt wird, wer der Nächste sei, antwortet er mit dem Beispiel eines Menschen der ganz handfest
und konkret Hilfe braucht. Rilke gibt dem Bettler eine Rose, der barmherzige Samariter hilft.
In der Bergpredigt begründet Jesus das Gebot, nicht nur die zu lieben, die unsere Liebe erwidern können, damit, dass Gott "seine
Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte." Wenn wir Gott im Bundesvertrag
der Taufe als unseren Großkönig annehmen, dann müssen wir damit rechnen, dass dieser König auch mit anderen Völkern seinen
Vertrag abschließt und es uns damit automatisch verboten ist, die als unsere Feinde anzusehen, die Gott nicht ausschließt. Die
Universalität Gottes ist gemeint mit dem Bild des Regens über Gerechte und Ungerechte.
Die Nächstenliebe, das wird am Extrem der Feindesliebe deutlich, ist Vertragserfüllung gegenüber Gott. Dieser Vertrag, der Bund
der uns zum Volk Gottes macht, ist Grundlage des Lebens. Amen.
Quellenhinweis
Punkt 2.2. Teilweise Zitat aus: Lohfink, Norbert: Höre, Israel!.
Auslegung von Texten aus dem Buch Deuteronomium. Düsseldorf (Patmos) 1965.