Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 29. Sonntag im Lesejahr B 2012 (II.Vatikanisches Konzil)

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21. Oktober 2012 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Mehrheiten

  • 96 bis 99 Prozent Mehrheit - das kannte man sonst nur von kommunistischen Parteitagen. Aber auch beim Zweiten Vatikanischen Konzil der Katholischen Kirche vor fünfzig Jahren wurden die Dokumente mit solch deutlicher Zustimmung verabschiedet. Dabei war es keineswegs so, dass - wie bei den Staatsdiktaturen - das Ergebnis von vorne herein festgestanden hätte, und die Versammlung der über 2.000 Bischöfe aus aller Welt einfach nur fertige Vorlagen abgenickt hätten. Das hatten sich vielleicht manche aus der römischen Zentrale erst mal so vorgestellt. Sie fanden, es sei doch alles klar, und das Konzil müsse nur noch verabschieden, was die päpstliche Kurie vorlegt.
  • Aber tatsächlich wurden alle diese Vorlagen entweder komplett zurück gewiesen oder erheblich überarbeitet. Das Konzil, trotz der ungeheuren Zahl an Teilnehmern, hat sich in drei Jahren intensiv mit den Themen beschäftigt, im Plenum, in den Ausschüssen und in den Beratungen mit Fachleuten. Zudem haben die Bischöfe in den Monaten zwischen den Sitzungen auch von daheim, aus ihren Bistümern, viele Anregungen mitgenommen. Es gab dramatische Phasen im Konzil - und dennoch standen am Schluss Mehrheiten von 96 bis 99 Prozent.
  • Die Frage bei all dem ist: Können wir uns auf den Heiligen Geist verlassen? Ist eine solche Einmütigkeit der Bischöfe aus allen Kulturen ein Zeichen, dass Gott wirksam ist? Können wir generell darauf vertrauen, dass Gott selbst unter uns wirksam ist und uns führt, wenn wir als Christen zusammen kommen, mit einander beten, nachdenken, um Lösungen ringen, auch streiten, in der Heiligen Schrift lesen und darauf schauen, wie die Gemeinschaft der Kirche in früheren Zeiten gedacht hat und geführt wurde - und dann in Ruhe und Klarheit ein Ergebnis finden?

2. Selbstmitteilung

  • Das Konzil hat in seiner letzten Sitzungsperiode die "Dogmatische Konstitution Dei Verbum- Über die göttliche Offenbarung" mit 99,74% der Stimmen verabschiedet. 2.344 Ja-Stimmen, nur 6 Bischöfe waren dagegen. Inhaltlich geht es in diesem Lehrdokument der Kirche darum, wie Gott sich uns Menschen mitteilt: Was ist Offenbarung und wie geschieht sie?
  • "Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren." Dies ist der Schlüsselsatz der Konstitution "Dei Verbum". Solange wir uns Offenbarung primär als "Informationsvermittlung" vorstellen, verheddern wir uns in Widersprüchen und wird der Glaube zu einem blutleeren Gehäuse von dogmatischen Sätzen. Indem das Konzil aber die frühe und die biblische Theologie neu zur Geltung gebracht hat, hat es deutlich gemacht: Im Zentrum stehen nicht Informationen über irgend etwas, sondern die Begegnung mit dem lebendigen Gott. Gott sendet uns nicht aus unendlicher Ferne Texte, die wir - friss oder stirb - zu akzeptieren hätten, sondern Gott will uns begegnen, uns, den Menschen, den er nach Gottes Abbild geschaffen hat.
  • Der Ort der Offenbarung ist daher nicht zwischen zwei Buchdeckeln zu finden, sondern dort, wo der lebendige Gott dem lebendigen Menschen begegnet. Für Offenbarung braucht es also nicht nur Gott, der sich zeigt, sondern auch den Menschen, der Gott begegnet. Die Heilige Kommunion ist daher ebenso Offenbarung, wie jede Alltagssituation, in der mir Gott im Angesicht einer Schwester oder eines Bruders begegnet, denen ich der Nächste sein kann. Es kann an verschiedensten Stellen 'Orte der Offenbarung' geben, auch wenn zwei Orte von Gott selbst herausgehoben wurden: Die Verkündigung der Heiligen Schrift der Bibel, die er für uns aufgezeichnet wissen wollte, und die Liturgie, in der die Kirche in der Tradition Israels Gottes Gegenwart gemeinsam und öffentlich feiert.

3. Schrift und Tradition

  • Offenbarung findet in der Lebenswelt der Menschen statt. Offenbarung hat eine Geschichte, die Geschichte der Begegnung zwischen Gott und Mensch. Das ist der eigentliche Hintergrund der Frage, wie sich die Heilige Schrift der Bibel und die Tradition des Glaubens der Kirche zu einander verhalten.
    Die Formel der Reformation "sola scriptura", "die Schrift allein", schafft nur scheinbar Klarheit, wenn sie übersieht, dass die Schrift selbst in der Geschichte der Kirche geworden ist und von ihr verantwortet wird. Dass die Schrift nur in der Begegnung mit dem Hörer des Wortes lebendig wird, war hingegen von Anfang an auch den Reformatoren wichtig.
  • Es gab vor und während des Konzils Stimmen, die eine klare und eindeutige katholische Position in dieser Frage wollten, notfalls gegen eine Minderheit der Versammlung. Die einen wollten, dass die Tradition neben der Schrift als eigenständige Quelle der Offenbarung gelten solle; die anderen gingen weit in Richtung eines reinen "sola scriptura". Im Ergebnis hat das Konzil in immer neuen Formulierungen ein 'Sowohl-als-auch' formuliert. Ja, die Tradition und das Lehramt der Kirche stehen nicht über der Heiligen Schrift, sondern müssen ihr dienen. Aber zugleich nein, das Offenbarungsgeschehen endet nicht, wo die biblischen Autoren den Punkt hinter den letzten Satz gesetzt haben, sondern es beginnt erst dort. Es war dieses ausgewogene 'Sowohl-als-auch', das am Schluss die große Mehrheit der Bischöfe beschlossen hat.
  • Damit hat das Konzil einerseits die Türen dafür geöffnet, dass heute in der katholischen Kirche sowohl in der privaten Frömmigkeit von Katholiken, in Bibelkreisen und Exerzitien die Bibel wieder eine zentrale Rolle spielt. Zugleich verweist uns das Konzil aber auf die eigene Glaubenserfahrung nicht nur unserer Zeit, sondern auch der Kirche in ihrer Tradition. Letztlich verweist es uns auf das Vertrauen, dass Gottes Heiliger Geist unter und wirksam sein will, wo wir mit einander auf das Wort der Schrift hören, mit einander die Zeichen unserer Zeit deuten, miteinander beten und Gottes Lob singen. Da findet Offenbarung statt. Amen.