Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 29. Sonntag im Lesejahr B 2000 (Markus)

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22. Oktober 2000 - Universitätskirche St. Nikolai, Göttingen (Gestaltung des Gottesdienstes zusammen mit amnesty international)

1. Erdbeben

  • Nur einmal in meinem Leben habe ich ein Erdbeben miterlebt, Anfang der neunziger Jahre in Bad Godesberg. Es war ein kleines Beben, gerade mal ein paar Bücher aus meinem Bücherregal sind herausgefallen und ein paar Steine vom Kirchturm von St. Marien. Aber dieses kleine Erdbeben hat mir gereicht, den Schrecken zu begreifen, wenn der Erdboden wankt. So selbstverständlich gehen wir sonst davon aus, dass die Erde unter unseren Füßen sicher ist. Wenn diese Sicherheit wegfällt, gerät alles ins Wanken. Zum Glück habe ich nur ein kurzes, kleines Beben erlebt und konnte es unter "Ausnahme" wegstecken.
  • Mir scheint das aber ein gutes Bild für eine andere Sicherheit zu sein, die wir meistens mit uns rumtragen und die nicht minder fundamental ist: Die Sicherheit, dass Gesetze gelten. Diese Sicherheit, zumindest im Prinzip, dass man sich auf das geschriebene Gesetz verlassen kann, diese Sicherheit ist uns in Westdeutschland seit fünfzig Jahren geläufig. Wir rechnen damit, dass wir einem Polizisten gegenüber genauso wie gegenüber einem anderen Beamten sagen können: Das und das ist im Gesetz geschrieben, daran müssen Sie sich auch halten.
  • Der Fall, auf den uns amnesty international heute aufmerksam macht, ist der Fall von Menschen, denen diese Sicherheit genommen wurde. Mag sein, dass sie zu Recht im Gefängnis saßen, mag sein, dass sie aufgrund ungerechter Gesetze und eines ungerechten Urteils im Gefängnis saßen. Das kann man ohne Sachkenntnis und aus der Ferne schwer beurteilen. Sicher aber ist ein Grundrecht verletzt, wenn jemand sich nicht darauf verlassen kann, dass das, was im Gesetz und in einem Gerichtsurteil geschrieben wurde, gilt. Der Boden, auf dem unser Leben in Gemeinschaft steht, ist die Verlässlichkeit der öffentlichen Gewalt, zumindest in solchen Extrembereichen wie Strafrecht. Wenn dieser Boden zum schlingernden Sumpf wird, wenn ich mich darauf nicht mehr verlassen kann, wenn die Erde unberechenbar bebt und wankt und zerstört, dann wird das Leben von Angst überwältigt und zerstört. Darin besteht die Verletzung des Menschenrechtes auf Rechtssicherheit.

2. Machtmissbrauch

  • Wer das heutige Evangelium gelesen hat, den dürfte solche Willkür nicht überraschen. "Ihr wisst," sagt Jesus, "dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen." Der Satz ist genau gesehen schockierend. In der Allgemeinheit wie er da steht, lässt er keine Ausnahme zu. Das einleitende "Ihr wisst..." macht deutlich, dass es nichts Neues ist: "Ihr solltet eigentlich wissen...".
    Jesus spricht von einem, der als Herrscher gilt. Die Formulierung dürfte mit Bedacht gewählt sein. Es spielt eine Rolle, dass der, der herrscht, sich diese Herrschaft auf dem Forum der Öffentlichkeit bestätigen lässt. Es geht hier also nicht um wirtschaftliche Macht oder mafiöse Strukturen, die im Hintergrund wirken. Dass darin Unrecht liegt würde uns weniger überraschen. Nein, es geht um Menschen, zumeist Männer, die "als Herrscher gelten" deren Herrschaft anerkannt ist von ihresgleichen wie von den der Herrschaft Unterworfenen.
  • Jesus formuliert den Satz wie eine anthropologische Notwendigkeit. Die gesellschaftlichen und politischen Strukturen sind so gebaut, dass die, die herrschen, die Tendenz haben zu absoluter Herrschaft. In ihren pathologischen Formen kommt dieser Charakter menschlicher Herrschaft zwar verzerrt, aber vielleicht doch allgemeingültig zum Ausdruck. Die römischen Cäsaren haben sich als Götter verehren lassen. Götter, das sind Herrscher, die nichts und niemanden mehr unterworfen sind, sondern ganz nach Belieben regieren. Belieben die Herrscher gerecht zu sein, sind sie gerecht. Belieben sie ihren eigen Nutzen zu fördern, dann missbrauchen sie die Macht über die Menschen. Und Letzteres ist der Normalfall. Auf jeden Fall ist der Boden, auf dem die Menschen stehen, die der Herrschaft unterworfen sind, unsicher. Wenn die Herrscher um ihre Macht bangen, gibt es ein Erdbeben.
  • Das Wichtigste an der modernen Demokratie ist vielleicht nicht das Wahlrecht, sondern dass Herrschaft nur auf Zeit verliehen wird, dass also das System vorsieht, dass die Götter regelmäßig gestürzt werden. Wahrscheinlich sollte niemand 16 Jahre Gott sein dürfen, sicher aber muss jeder wissen, dass seine Herrschaft nur auf Zeit ist. Ein zweites Instrument zur Entgöttlichung der Herrschaft ist, dass man mehrere Gewalten in Gegensatz zueinander setzt, in der Hoffnung, dass sie so die negativen Auswirkungen von Herrschaft neutralisieren, wie die Interferenz von Schwingungen eine einigermaßen ruhige Linie ergeben mag.

3. Der dienende Herrscher

  • Das Evangelium macht deutlich, dass die Frage der Herrschaft für die Kirche zentral ist. Vor allem das Wort Jesu "Bei euch aber soll es nicht so sein" hat es in sich. Denn es genügt ganz offensichtlich nicht, dass wir wohlmeinende Appelle von uns geben. Es ist ein Unterschied zwischen der Ermahnung "Du sollst nicht..." und diesem "Bei euch aber...".
    Die beiden Jünger Jakobus und Johannes wussten genau, was sie wollten. Sie erwarteten, dass mit dem bevorstehenden Einzug nach Jerusalem die Königsherrschaft Jesu Christi anbricht. Sie wollten sich schon einmal die besten Plätze sichern, links und rechts des Herrschers. Für Jesus aber zeichnet sich schon überdeutlich ab, wie der Einzug in Jerusalem verlaufen wird, was dort auf ihn wartet und wie die Herrschaft des Gottessohnes aussehen wird. Das Bild des bitteren Kelches, den er wird trinken müssen, ist Vorahnung des Kreuzes.
  • Das Kreuz aber ist nicht das Scheitern der Gottesherrschaft. Im Gegenteil. Es ist der Anbruch der Gottesherrschaft. Der, der am Kreuz als Verbrecher gilt, der bei keinem als Herrscher gilt, der ist es, der eine neue Herrschaft aufrichtet, indem er die Spirale von Gewalt und Herrschaft durchbricht und Macht neu definiert. "Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein."
    Bedingung dieser neuen Herrschaft ist eine neue Form der Öffentlichkeit. Groß gilt bei Gott nicht mehr, wer im Ruf der Herrschaft steht, sondern wer dient. Man spottet leicht darüber, dass die Kirche oft erst nach Jahrhunderten Menschen heilig spricht, die sie selbst verfolgt hat. So sehr es die Kirche beschämt, dass sie solche Menschen verfolgt hat, so sehr ist es gemäß der Logik Gottes, diese als Heilige vorzustellen.
  • Die Definition von Herrschaft im Reich Gottes ist unverträglich mit staatlicher Gewalt. Deswegen musste der Versuch scheitern, christliche Staaten und Herrschaft von Gottes Gnaden zu schaffen, obwohl sich das Unrecht dieser Staaten noch human ausnimmt gegen den gottlosen Terror der Neuzeit. Aber trotzdem, Herrschaft als Dienst taugt nicht zur Verfassung des Staates, es ist der Verweis auf die andere Wirklichkeit, die von Gott her kommt. Gerade dadurch aber gibt es die Chance, durch das "Bei euch aber soll es anders sein...." das Bewusstsein wach zu halten, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Macht missbrauchen, und daher Herrschaft so weit wie möglich beschränkt werden muss. Dass wir Politiker nur auf Zeit wählen und dass Justiz, Verwaltung und Parlament getrennt werden zeigt als ein Versuch solcher Beschränkung, dass wir prinzipiell damit rechnen, dass Macht missbraucht wird.
    Wir können gegen den Missbrauch von Herrschaft in anderen Ländern nur glaubwürdig protestieren, wenn wir hier, in unserem eigenen Land, als gläubige Christen unsere Sinne wach halten für die Gefährdung des Menschen. Im Namen Gottes Einspruch erheben gegen die Verabsolutierung menschlicher Herrschaft, damit der Boden unter unseren Füßen ein wenig sicherer ist. Amen.