Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 24. Sonntag im Lesejahr C 2001 (Exodus)

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16. September 2001 - Intern. Automobilausstellung, Messegelände Frankfurt

Am Dienstag der vergangenen Woche haben unbekannte Terroristen in den USA mehrere Tausend Menschen bei Anschlägen getötet. Die Predigt nimmt darauf Bezug.

1. Ein Angriff auf die zivilisierte Welt.

  • Ein Angriff auf die zivilisierte Welt. Dies ist die meistgehörte Kennzeichnung dessen, was in der vergangenen Woche in New York und Washington geschehen ist. Der vieltausendfache Mord ist mehr als das, was Terrorismus zu nennen wir uns gewöhnt haben. Er wird in der europäischen und US-amerikanischen Öffentlichkeit als ein Angriff auf die Zivilisation verstanden.
    Manches, was sich als Reaktion nun abzeichnet, macht mich bangen, dass diese Beurteilung traurige Wirklichkeit wird: Dass die Trauer um Menschen umschlägt in einen Angriff auf die Zivilisation.
  • Tagelang überwog Entsetzen und ungeheures Mitgefühl. Aber ebenso ringen wir seit Tagen um Worte, das, was passiert ist zu deuten. Heute, am Tag des Herrn fünf Tage danach, kommen wir nicht umhin, uns diese Frage explizit als Christen zu stellen. Der Gottesdienst "zwingt" uns Worte im Gebet zu finden und konfrontiert uns in der Ratlosigkeit mit der Heiligen Schrift.
  • Die Kommentatorin der Tagesthemen in der ARD am Mittwoch Abend sagte (sinngemäß): Präsident Bush solle nun das Neue Testament bei Seite legen und nach dem "3. Buch Mose" greifen. Und sie zitierte: "Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat, Schaden um Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er einen Menschen verletzt hat, so soll man ihm auch tun" (Lev 24,19-20" rev. Lutherausgabe).
    Dieser Kommentar hat mir deutlich gemacht. Hier geht es in der Tat um einen Angriff auf unsere Zivilisation. Das Ganze der Heiligen Schrift, auch das Ganze des Alten Testamentes, soll im Rückgriff auf archaische Schichten reduziert werden, um der Rache Raum zu geben. Die Verbiegung des Islam durch Terroristen soll hier mit der Verbiegung der jüdischen und christlichen Tradition beantwortet werden.

2. Rückkehr zum Leben

  • Die Erste Lesung und das Evangelium des heutigen Sonntags stehen in einer Spannung zueinander, der sich auszusetzen unausweichlich ist. Die beiden Texte sollten in jedem Fall aufeinander hin gelesen werden. Nur wenn uns dies gelingt, können wir vermeiden, die Hochachtung Jesu vor dem Alten Testament durch billige Polarisierung zu ersetzen.
  • Das Evangelium spricht vom Blick des Himmels auf das Lebensgeschick des Menschen. Gegenüber denen, die sich darüber empören, dass Jesus mit Zöllner und Sündern Mahl hält, macht Jesus deutlich: Der ganze Himmel nimmt Anteil am Weg und Irrweg eines jeden Menschen. Die größte Freude herrscht im Himmel, wenn ein Mensch, der sich selbst aufgegeben hat, wiedergefunden wird von der Quelle des Lebens.
    Wie die Frau, die nicht ruht, bevor sie nicht das verlorene Geldstück wiedergefunden hat, so lässt es Gott nicht in Ruhe, wenn ein Mensch das Gesetz des Lebens preisgegeben hat. Der Sünder, der die Gerechtigkeit mit dem Eigennutz vertauscht hat, fällt nicht aus Gottes Liebe - Gott wirbt um ihn und sucht ihn, wie Jesus die Zöllner seiner Zeit.
  • Genau dieses Gesetz des Lebens hat Gott dem Mose auf steinerne Tafeln geschrieben, damit er diese Gebote zum Leben dem Volk gebe. Das Volk aber, müde des Wartens, hat sich ein eigenes Symbol gegossen, um darin Gott anzubeten: Ein Kalb, gegossen aus dem Schmuck der Töchter und Söhne des Volkes. Dies, der eigene Reichtum, ist es, der dich befreit!, das drückt der Tanz um das Goldene Kalb aus.

3. Zivilisation und Gottes Atem

  • Die Reaktion Gottes auf diesen Tanz ist verwirrend. Die Reaktion scheint denen recht zu geben, die sich auf einen angeblichen Rachegott des Alten Testamentes berufen, der spricht: "Ich habe dieses Volk durchschaut: Ein störrisches Volk ist es. Jetzt lass mich, damit mein Zorn gegen sie entbrennt und sie verzehrt." Wer diesen Satz aus der Dramatik des Offenbarungsgeschehens herausreißt, hat die Heilige Schrift verfälscht. Wer vom Rachegott spricht, macht willkürlich einen Punkt, wo der Satz weiter geht.
  • "Da versuchte Mose", so heißt es nämlich weiter, "den Herrn, seinen Gott, zu besänftigen". Mose ist ein von Gott selbst Berufener. Im Dialog mit Mose daher offenbart sich Gott. Das Volk war berufen Volk Gottes zu sein, die civitas dei, von Gottes Gebot zivilisiert. Dieses Volk, von wem oder was auch immer verleitet, hat sich anders entschieden. Kein Zweifel, der Text der heutigen Lesung gehört einer Schicht des Alten Testamentes an, die durch die Propheten und die ganze Tradition der Geschichte Israels relativiert, in Teilen sogar negiert werden muss (vgl. Ex 32,28f!). Gültiger Bestand der Offenbarung ist aber, dass Gott das Volk nicht verloren gibt. "Immer wieder hast du den Menschen deinen Bund angeboten und sie durch die Propheten gelehrt, das Heil zu erwarten." Was wir nachher im Vierten Hochgebet beten, bezieht sich auf diese Unermüdlichkeit Gottes gegenüber seinem Volk. Das Angebot des Bundes geschieht in den Menschen, die sich von Gott senden lassen. Die Fürbitte des Mose für das Volk erst offenbart daher, wie Gott wirklich ist. Denn in der Rede des Mose wird uns die Tradition des Heilshandeln Gottes vor Augen gestellt.
    "Denk an deine Knechte, an Abraham, Isaak und Israel, denen du mit einem Eid bei deinem eigenen Namen zugesichert und gesagt hast: Ich will eure Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel, und: Dieses ganze Land, von dem ich gesprochen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es für immer besitzen. Da ließ sich der Herr das Böse reuen, das er seinem Volk angedroht hatte." Ein leidenschaftlich liebender Gott, der nicht Vernichtung will, sondern Leben.
  • Genau diesen Gott verkündet uns Jesus. Gott nimmt weder das Unrecht hin, noch begnügt er sich mit neunundneunzig Gerechten. Alle Menschen sind aus Gottes Atem geschaffen und können nur aus diesem Liebesatem leben. Dies ist der Grund der Freude im Himmel über jeden, der umkehrt. Wer Gottes Zorn über das Unrecht verwechselt mit Rache, hat weder das Alte noch das Neue Testament verstanden. In der Hinwendung Gottes zum Menschen, in dem Ohr, das er der Fürbitte des Mose leiht, und in der Leidenschaft, in der er das Verlorene sucht, offenbart sich Gott.
    Die USA und die NATO müssen entscheiden, was zu tun ist, um die Urheber und Mitschuldigen an dem ungeheuren Verbrechen zu strafen. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass daraus ein Angriff auf unsere Zivilisation wird. Diese Zivilisation ist weder das Geld, dessen Symbol das World Trade Center war, noch die Supermacht, deren Symbol im Pentagon getroffen wurde. Diese Bauten erinnern mich zu sehr an das Goldene Kalb.
    Unsere Zivilisation gründet vielmehr auf dem Glauben an den Gott, der sich dem Menschen zuwendet. Strafe und Vorbeugung gegen neuen Terrorismus werden nötig sein, auch mit militärischen Mitteln. Rache aber macht den Angriff vom vergangenen Dienstag erst zum erfolgreichen Angriff auf unsere Zivilisation.
    Jede Reaktion hingegen, die sich diese Zivilisation nicht nehmen lässt, öffnet dem Frieden eine Chance. Jede Reaktion, die Gott als letzte Instanz über unserer Welt respektiert, kann sich auf Zivilisation berufen. Und nur so erweisen wir uns würdig im Angesicht der Menschen, die ihr Leben auf grausame Weise verloren haben. Amen.