Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 2. Sonntag der Osterzeit Lesejahr A 2005

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3. April 2005 - Pfarrgemeinde St. Ignatius, Frankfurt/Main

1. Selbstliebe

  • Ist Selbstliebe etwas verwerfliches? Die klassischeBehandlung dieser Frage findet sich schon bei Aristoteles (im IX. Buch der Nikomachischen Ethik. Schon hier, 300 Jahre vor Christus, findet sich die Frage "ob man in erster Linie sich selbst oder einen andern lieben soll" (1168a30). Jedem, der sich nicht selbst in kleinkindlicher Selbstverständlichkeit absolut setzt, stellt sich diese Frage. Aber auch mancher, der sich in aufopferungsvollem Dienst an anderen verschleißt, kommt an den Punkt, wo er - oder öfters noch: sie - sich fragt, ob mehr Selbstliebe nicht wichtig sei.
  • Schon in der klassischen griechischen Philosophie kennt Aristoteles den üblen Leumund der Selbstliebe. Der minderwertige Mensch allein, so erlauscht er den Konsens der Edlen, denke in erster Linie an sich selbst. Der edle und wertvolle Mensch hingegen würde statt sich selbst das Schöne und Edle an erste Stelle setzten - und das war den Alten vor allem die Liebe zum Vaterland und die Freundschaft.
  • Bei den ersten Christen nach Pfingsten verkaufte man sein Hab und Gut und stellte es der Gemeinschaft zur Verfügung. Wenn das Lukasevangelium so über das Leben der Urgemeinde in Jerusalem berichtet, klingt das in den Ohren klassisch gebildeter Mitbürger seiner Zeit sehr positiv. Ein Ideal wird hier als erreicht geschildert. Eine Utopie hat sich erfüllt. So hatten sich schon Platon und Aristoteles den idealen Stadtstaat gedacht. Aber, wo bleibe ich selbst, wenn alles Hab und Gut verschenkt ist? Wäre ein "gesundes Maß" an Selbstliebe nicht ratsamer? Was von den materiellen Gütern gilt, gilt genau so auch von meiner Zeit und Energie. Soll ich immer nur für andere da sein? Ist Selbstliebe denn so schlecht?

2. Christen

  • Die Christen waren eine gar nicht so kleine Minderheit im jüdischen Jerusalem. Die Gruppe der Christen, die in jenen Jahren nach dem Pfingstfest als Teil des Judentums lebte, war größer, als man lange Zeit dachte. Archäologische Funde lassen darauf schließen, dass die Zahlenangaben der Apostelgeschichte nicht unrealistisch sein müssen. Das macht die Frage nach ihrer Lebensweise für uns interessant, denn die Christen lebten in einer der wichtigeren Zentren des Römischen Reiches und standen im Austausch mit der ganzen Welt der römisch-griechischen Kultur.
  • Lukas notiert Merkmale der jungen Kirche. Mag sein, dass es idealtypisch überhöht ist, mag sein, dass er das Selbstverständnis der jungen Kirche unter Jakobus und Petrus eingefangen hat. Von den Christen sagte er: "Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft". Die Weise dieser Menschen jüdisch zu glauben, war also geprägt durch die Lehre der "Gesandten Jesu", der Apostel und durch das Bewusstsein, eine Gemeinschaft zu sein.
    Auch wenn die Christen noch ganz in das Judentum integriert waren und am Tempelgottesdienst teilnahmen, gibt es doch den Beginn eines eigenen Kultes, wenn es heißt, dass sie festhielten "am Brechen des Brotes und an den Gebeten." Das heißt, sie haben in den Häusern der einzelnen Christen die Eucharistie gefeiert und besondere Gebete gehabt, die auf die besondere Weise Jesu zu Gott als seinem Vater zu beten anknüpfen. "Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens." Die ersten Christen waren also nicht nur zum "Brotbrechen", der frühen Hl. Messe, zusammen, sondern hielten in ihren Häusern auch so miteinander Mahl.
  • Lukas ist der Ansicht,. dass Gütergemeinschaft charakteristisch war für diese Gemeinde: "Alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte." Wenn man das im Zusammenhang der ersten Kapitel liest, wird deutlich, dass nicht alle alles verkauften, wohl aber einige und dass die junge Christengemeinde sehr schnell Strukturen geschaffen hatte um dafür zu sorgen, dass die Armen in ihrer Mitte integriert und unterstützt wurden.

3. Heute

  • Muss das eine schöne Utopie bleiben? Schon bald im Anfang war das Ideal mehr Leitidee denn unverkürzte Realität. Wenn Lukas zwanzig Jahre später (1) die Situation der Urgemeinde so schildert, wird deutlich, dass er damit bereits seine Zeit zu einer erneuerten Praxis motivieren wollte. Daher sollten auch wir in gänzlich anderer Zeit und Situation sehen, zu welcher Praxis Lukas uns damit ermuntert. Drei Punkte will ich nennen:
    • Ich halte das gesellschaftliche und soziale Engagement der katholischen Kirche in Deutschland für eine großartige Sache. Wir sollten die Arbeit der Caritas und vieler anderer Institutionen im Dienst der Armen in unserem Land nach Kräften fortführen. Die Bedeutung der Kirche nimmt ab, die Kräfte werden weniger. Das ist kein Drama, wenn wir weiter "nach Kräften" das uns mögliche tun und weiter gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Die Minderheitenkirche in Jerusalem aber konnte nicht "gesellschaftliche Verantwortung" übernehmen. Dafür hat sie aber durch die Solidarität der Christen unter einander gezeigt, dass Gott ein anderes Zusammenleben ermöglicht, als es Markt und Macht außerhalb diktieren. Dieses "Füreinander als Kirche einstehen" müssen wir erst neu lernen. Nicht um kirchliche Binnenorientierung und Selbstliebe geht es dabei, sondern um ein gelebtes Zeichen als Dienst an dieser Welt.
    • Zweitens fällt mir auf, wie wichtig die Privathäuser für das Leben dieser Christen damals war. Gastfreundschaft unter einander ist für mich ein Lackmustest unseres Glaubens. Wir erleben dabei und verkünden, dass letztlich Gott es ist, bei dem wir alle zu Gast sind. Ich kann daher nur uns alle ermutigen uns umzuschauen, und uns untereinander auch und gerade zum Essen einzuladen. Dass dazu auch gemeinsames Gebet gehört, war in apostolischer Zeit selbstverständlich.
    • Schließlich und drittens lag Aristoteles mit der Auflösung seiner Frage gar nicht so falsch. Ist Selbstliebe etwas verwerfliches? Nein, sagt er, wenn wir für uns selbst nicht nur Banales und Niedriges, Geld, Konsum und persönliche Ehre wünschen, sondern uns an dem ausrichten, was für uns selbst so viel wertvoller ist als alle Lustbefriedigung zusammen. Selbstliebe kann zu wunderbarer Freundschaft untereinander führen, wenn wir tun, was die ersten Christen taten: "Festhalten an der Lehre der Apostel".
  • Die Basis unseres Glaubens ist, was Gott an uns tut. Darin besteht der Kern der Lehre der Apostel. Gott ermuntert und stärkt uns zur Umkehr. Er führt uns zusammen zu einer Gemeinde. Und er hat uns ein lebendiges Beispiel gegeben für die Weise, wie wir als Gemeinschaft leben können: in seiner Gegenwart in Jesus, dem Nazoräer. Amen.

 


 

Anmerkung

(1) Ich gehe davon aus, dass die Apostelgeschichte vor dem Martyrium des Hl. Paulus (ca 67 n.Chr.) geschrieben wurde! Es wäre unverständlich, warum Lukas dieses nicht berichtet, wenn er nach Pauli Tod dessen Geschichte verfasst hätte. Eine spätere Datierung hängt letztlich alledin an dem dünnen Faden, ob man die Ankündigung der Zerstörung Jerusalems im Lukasevangelium zwingend als nach der Zerstörung verfasst ansieht - und dies allein deswegen, weil dort Belagerungstechniken geschilderten werden, die 70 n.Chr. tatsächlich zum Einsatz kamen.