Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum Palmsonntag im Lesejahr B 2006 (Jesaja)

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9. April 2006 - Oberschwappach/Knetzgau

1. Prophetenwort

  • "Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. Ich aber wehrte mich nicht und wich nicht zurück." Dieser Satz - oder diese Sätze - steht in der Mitte der heutigen Lesung aus dem Buch Jesaja. Wir nennen es "Das dritte Lied vom Gottesknecht". Die antiken Schriften kannten keine Satzzeichen. Man muss also bei der Übersetzung ins Deutsche entscheiden, wo ein Punkt und wo ein Komma hingehört.
  • Manche Bibelübersetzungen setzen nicht nur einen Punkt, sondern machen zudem einen Absatz. Dann wir der erste Teil auf das vorhergehende bezogen "Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet." Der Teil gehört dann zu dem Abschnitt, der beginnt mit: "Gott, der Herr, gab mir die Zunge eines Jüngers, damit ich verstehe, die Müden zu stärken durch ein aufmunterndes Wort." Der zweite Satz wird auf das Folgende bezogen: "Ich aber wehrte mich nicht und wich nicht zurück" - vor denen die den Propheten verfolgen und schlagen.
  • Der zweite Teil des Zitats beginnt jedoch mit einem "aber" (hebräisches waw-aderversativum). Gott hat dem Propheten das Ohr geöffnet - er aber wehrte sich nicht. Ist nicht vielleicht doch Gott gemeint, gegen den er sich nicht wehrt? Das würde bedeuten, dass es gar nicht so rundherum erstrebenswert oder gar angenehm erscheint, wenn Gott einem Menschen das Ohr öffnet zu hören und die Augen auftut zu sehen.

2. Prophet werden

  • Augen und Ohren verschließen ist manchmal erste Wahl. Das gilt nicht nur für Propheten, die sehen, wie ein ganzes Volk ins Unglück geführt wird. Lieber würden sie wegschauen, als sich durch Gott dazu drängen zu lassen, offen auszusprechen, was keiner wahrhaben will.
  • Wir kennen das Schweigen. Nicht nur in der Politik, gerade auch inmitten unserer Familien und auch in einer Gemeinde gibt es das. Da werden einzelne an den Rand gedrängt und beschuldigt. Da üben andere Druck auf die ganze Familie aus. Aber keiner sagt es. Lieber duckt man sich weg und schaut nicht hin, als den Frieden zu stören.
  • Der Prophet wird zum Friedensstörer. Er tut dies nicht aus Lust an der Provokation. Er tut es, weil Gott ihm das Ohr geöffnet hat und ihn sehen lässt, dass dieses Schweigen Opfer fordert. Es sind die schwächsten in der Familie, diejenigen, die sensibel sind für Spannungen, die am meisten darunter leiden. Es ist eine Tat Gottes, das sagt uns die Lesung, wenn Gott Menschen ermächtigt, dies auszusprechen. Aber es ist eine Tat Gottes, die den, der es ausspricht, selbst zum Opfer macht. Wer das Problem benennt, wird selbst zum Problem. Sich gegen die Berufung Gottes nicht zu wehren, braucht Kraft und Glauben - Glauben, dass Gott auch dort seinen Boten nicht verlässt, wo ihm niemand die Botschaft dankt, sondern er selbst an den Rand gedrängt wird.

3. Erfüllung

  • "Gott, der Herr, gab mir die Zunge eines Jüngers", sagt der Prophet. "Jünger" ist das Wort, das wir aus dem Evangelium gut kennen. Jünger sind die Freunde Jesu, die auf ihn hören und mit ihm gehen. Man könnte auch "Schüler" übersetzen. Es sind aber nicht Schüler, die einen Lernstoff aufnehmen, sondern erwachsene Menschen, die Jesus mit ihrem Leben nachfolgen. Sie sehen den Einen, der den Weg gegangen ist. Mit Ihm gehen sie.
  • Das Gottesknechtlied ist im Alten Testament fast einzigartig. Es bekennt, dass Gott auch dort mit dem Jünger ist, wo dieser scheitert und stürzt. Nicht am Erfolg wird Gottes Segen sichtbar, sondern an der Wahrheit des Lebens dieses Menschen.
  • Der Bericht über das Leiden Jesu erfüllt, was bald sechs Jahrhunderte zuvor der Prophet Jesaja geahnt hat. Jetzt aber weist Gott nicht nur den Menschen den Weg; jetzt aber gibt Gott seinem Jünger nicht nur die Kraft, offen zu sprechen, wo die Menschen dies nur mit Verfolgung danken. Jetzt geht Gott selbst diesen Weg. In seinem Sohn trägt Gott selbst das Kreuz. Der Jünger Gottes wird zum Jünger Jesu. Er ist der Gottesknecht, der versteht "die Müden zu stärken durch ein aufmunterndes Wort", ja, Gott selbst geht den Weg. Wie Jesus, so wird auch sein Jünger nicht untergehen im Schweigetod, den Menschen ihm bereiten.