Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 5. Fastensonntag Lesejahr B 2003 (Jer)

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6. April 2003 - Universitätsgottesdienst, St. Ignatius Frankfurt

1. Enteignung

  • Die religiöse und geistige Enteignung eines Volkes macht sich mitschuldig am Völkermord. Religiöser Antijudaismus muss nicht zum Pogrom führen. Er bereitet ihn aber mit vor. Die Weise, wie bis zur Mitte des XX. Jahrhunderts - und teilweise darüber hinaus! - christlich-religiös über die Juden gedacht und gesprochen wurde, hat mit dem biologistisch-atheistischen Antisemitismus des Nationalsozialismus inhaltlich nichts gemein. Trotzdem hat christliche Theologie den Holocaust mit möglich gemacht. Denn bereits wer ein Volk religiös und geistig enteignet, macht sich mitschuldig an dem, was kommt.
  • Die Geschichte des Umgangs mit dem Text der ersten Lesung aus dem Kapitel 31 des Propheten Jeremia kann dies überdeutlich machen. Denn dieser Abschnitt ist eine der Hauptreferenzen für Christen geworden, die das Judentum religiös enteignen wollten. Die Verheißung des Propheten, dass Gott mit "dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen" werde, wurde konsequent umgedeutet(1): Den neuen Bund, d.h. das "Neue Testament" (griechisch diateke LXX) habe Gott erst und ausschließlich in Jesus Christus geschlossen - und nicht mehr mit "dem Haus Israel und dem Haus Juda", sondern mit dem neuen Gottesvolk, der Kirche.
  • Das Wort "neu" wird hier immer in dem Sinne verwendet, wie man das alte Auto auf den Schrott gebracht hat, um sich ein neues zu besorgen. Die Aneignung der Hl. Schrift wird dabei zur religiöse Enteignung. Die Menschen aus all den anderen Völkern (unsere Bibel übersetzt "Völker" mit "Heiden"!), vergessen nicht nur, dass die Kirche in dem einen Volk Israel angefangen hat und nur aus Juden und Heiden gemeinsam bestehen kann. Man sehe auf das heutige Evangelium, in dem die "heidnischen" Griechen durch die Vermittlung der Juden Philippus und Andreas erst zu dem Juden Jesus finden. Wir, ihre heidnischen Nachfahren, vergessen leicht, dass uns aus wunderbarer Gnade der Weg zu dem einen Bund geöffnet wurde -, wir, die Heiden, haben in den 2000 Jahren seitdem vielfach mit der Rede vom "Neuen Bund" und vom "Neuen Testament" so getan, als sei der "Alte Bund" und das "Alte Testament" ein auf dem Schrottplatz zu entsorgendes Vorgängermodell, geeignet bestenfalls zum Ausschlachten von Einzelteilen.

2. Erneuerung

  • Aus der religiösen Enteignung wurde in der Geschichte vielfach Pogrom und Verfolgung. Die Form, mit der heutigen Lesung umzugehen, hat aber zuerst dazu geführt, dass das Wort Gottes verschüttet wurde. Und dieses ist aufgeschrieben, damit wir Menschen leben! Gott verheißt darin seinem Volk eine Nähe. Er verheißt, dass das Gesetz, nach dem Menschen in Frieden und Gerechtigkeit zusammen leben können, den Menschen so innerlich nahe kommt, dass es gelingt, auch wirklich danach zu leben. Gott will die Tora, die 10 Gebote, einst auf Stein geschrieben, seinem Volk ins Herz schreiben.
  • Das ist die herrlichste Erneuerung des Menschen, der schuldig geworden ist. Nicht Strafe und Vernichtung wegen Bundesbruch, sondern Erneuerung des Bundes durch seine Verinnerlichung. Die Aufhebung der Last der Vergangenheit ist die Bedingung, dass ein Volk in Gerechtigkeit und Frieden leben und Gott erkennen kann: "Denn ich verzeihe ihnen die Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr."
  • Diese Lesung hat ihren historischen Ort. Das Buch Jeremia spricht zu den Israeliten, die den Zusammenbruch ihres Reiches erlebt haben. Von ihren Königen sind sie schlecht regiert worden. Im Volk gab es genug Leute, die von der Ungerechtigkeit profitiert hatten. Nicht wenige haben sich bereichert auf Kosten der Armen. Das alles hat zur Entfremdung von Gott geführt ("Diesen meinen Bund haben sie gebrochen").
    Er wollte ihr Gott sein. Dem Volk jedoch unter seinen Königen waren die Forderung nach Gerechtigkeit im Lande lästig geworden. Das war die tiefere Ursache der nationalen Katastrophe im Jahr 586 v.Chr., als Jerusalem zerstört wurde und Israel in Babylonische Gefangenschaft musste. Das aber ist auch die Vorgeschichte der Verheißung: Gott will den Bund seinerseits nicht aufkündigen, sondern erneuern.

3. Aktualisierung

  • Die hier angesprochenen Themen sind höchst aktuell. Denn es geht darum, ob ein Volk, das von seinen Führern in die Diktatur geführt wurde und dessen herrschende Schicht sich dabei bereichert hat, ob ein solches Volk seine Zukunft verwirkt hat. Darf es mit Gewalt und Krieg vom Unrecht "befreit" werden? Und welcher Respekt vor den geistigen und religiösen Wurzeln eines Volkes darf darüber nicht verloren gehen? Wie kann Erneuerung geschehen?
    Man kann sehr konkret über die Zukunft des Irak spekulieren. Hier, in der Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift, interessiert mich die geistige Grundlage einer zukünftigen (Welt-?) Politik. Für uns Christen wird das Verhältnis zum Volk des Ersten Bundes, dem Volk Israel, der Lackmustest bleiben. Wenn wir ihm die Legitimation durch unseren Anspruch auf den "Neuen Bund" entziehen, dann haben wir wir keine Grundlage, einer analogen Politik gegenüber dem Nachkriegs-Irak entgegenzutreten.
    Denn analog zur Lesart vom "Neuen Bund", der den Alten Bund auf dem Schrottplatz der Religionsgeschichte entsorgt, gebärdet sich westliche Aufklärung mit ihren Werten als "unüberholbarer neuer Bund des Menschen mit der Vernunft", der alle fremde Geistesgeschichte bestenfalls als Steinbruch zur Legitimierung der eigenen Vorstellung gebrauchen will. Die gegenwärtige Diskussion zur "Gestaltung des Nachkriegs-Irak" mag zynische Verschlierung von ökonomisch-militärischen Interessen sein. Aber selbst wenn ich sie ernst nehme, hat diese Diskussion mit westlicher Arroganz den Völkern des Irak schon lange die Legitimation entzogen. Der "Neue Bund" heißt dann: "Freiheit", "Demokratie", "Marktwirtschaft" - und das immer zu unseren Bedingungen.
  • Wenn Christen den Bund Gottes mit seinem Volk Israel abtun, geschieht das zumeist unter Bezugnahme auf neutestamentliche Texte wie das Kapitel 8 im Hebräerbrief. Dabei übersehen sie aber dann übersehen dreierlei:
    • Erstens ist der Hebräerbrief und das ganze Neue Testament nicht geschrieben, um gegen das außerkirchliche Judentum zu polemisieren. Er ist vielmehr geschrieben, um Christen zu stärken und zu ermutigen. Ihnen wird das Geschenk der Menschwerdung vor Augen geführt.(2)
    • Zweitens vergessen Christen sehr leicht, dass wir in jeder Messe beten: "bis du kommst in Herrlichkeit". Diese Wiederkunft Christi in Herrlichkeit steht noch aus. Wir leben in der Zwischenzeit von Christi Himmelfahrt bis zu dem Tag, von dem wir im Credo bekennen: "Er sitzt zur Rechten des Vaters / und wird wiederkommen in Herrlichkeit, / zu richten die Lebenden und die Toten; / seiner Herrschaft wird kein Ende sein." Christen verhalten sich gerne so, all sei hier auf Erden schon alles gelaufen. Sie verwechseln die Situation "zur Rechten des Vaters" mit der Situation auf Erden.
    • Und damit geschieht der dritte Irrtum: Indem das "andere Volk" enteignet wird, entgeht dem "eigenen Volk" leicht, wie nötig es selbst die Umkehr hat.
  • Der Weg kann daher nur einer sein: In Bezug auf Israel müssen wir — in Übereinstimmung etwa mit Papst Johannes Paul II aber gegen viele Theologen aus 2000 Jahren Christentum aller Konfessionen — den Bund des Alten Testamentes achten als den Ersten Bund Gottes, den nie gekündigten. Das Alte Testament muss uns immer das Erste Testament sein, Grundlage unserer eigenen Berufung in Christus Jesus.
    Dann werden wir in den Heiligen Schriften dieses Ersten Bundes Evangelium entdecken: Erneuerten Bund, erneuerte Liebe, erneuerte Zuwendung Gottes auch zu uns. Nur gemeinsam mit dem Volk der Juden wird die Verheißung auch für uns wahr: "Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein."

Anmerkungen

1. Belege bei Zenger, Erich: Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen. Düsseldorf (Patmos). 4 Auflage 1994, insb. S.98-108.

2. Gräßer, Erich: An die Hebräer. 2. Teilband. Hebr 7,1-10,18. Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament (EKK) XVII/1. Einsiedeln/Neukirchen-Vluyn (Benziger/Neukirchener) 1993, S. 107: "Der Hebr polemisiert nicht gegen das nachchristliche Judentum. Seine Diastase lautet himmlisch/irdisch, nicht jüdisch/christlich. Er malt den himmlischen Kult vor dem Hintergrund des irdischen, um seinen überragenden Glanz deutlich werden zu lassen".
Päpstliche Bibelkommission: Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der Bibel. Dokument vom 24. Mai 2001. Bonn. In: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls. Herausgegeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2001, S. 80: "Israel steht weiter zu Gott in einer Bundesbeziehung, denn der Verheißungsbund ist endgültig und kann nicht außer Kraft gesetzt werden. Doch hatten die ersten Christen das Bewusstsein, in einer neuen Phase dieses Bundes zu leben".