Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 3. Fastensonntag Lesejahr B 2000 (Exodus)

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25./26. März 2000 - Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt, Slavgorod

1. Zehn Gebote

  • Für die Dörfer hier in Sibirien ist die Stromleitung eine ganz wichtige Verbindung, manchmal die einzige Verbindung zur Außenwelt. Wenn irgendwo, an irgendeiner Stelle diese Leitung durchbrochen ist, fällt der Strom aus. Deswegen kann man nicht sagen, dass ein Abschnitt der Leitung wichtiger oder weniger wichtig ist als ein anderer - nur alle zusammen leiten den Strom. So ist es auch auch mit den Zehn Gebote.
  • Gott hat dem Volk Israel die Zehn Gebote gegeben, damit das Volk in Freiheit leben kann. Jedes dieser Gebote ist wichtig. Man kann nicht sagen: dieses ist weniger wichtig, das kann man eher übertreten. Es ist mehr wie die Stromleitung: Nur wenn das Kabel auf ganzer Länge intakt ist, fließt der Strom. Nur wenn die Gebote zusammen genommen von den Menschen gelebt werden, kann die Verheißung für das Volk wahr werden. Nur wenn wir den ganzen Glauben annehmen, haben wir das Leben, das er schenkt.
  • Es gibt also nicht "weniger wichtige" Gebote. Aber es gibt Bereiche, die gefährdeter sind. Es gibt Gebote, die wir leichter übersehen, ausdünnen oder ganz ignorieren. Dann ist es wichtiger, über diese Gebote zu sprechen.

2. Gebote für das Leben in Freiheit

  • Wenn Sie die Gebote hören, werden ihnen schnell Beispiele einfallen, die deutlich machen, dass diese Gebote im ganzen Volk geachtet werden sollten. Um deren Bedeutung wird es kaum Streit geben. Manches Gebot müssen wir uns auch selber sagen lassen - ob wir nicht auch dagegen verstoßen. Es sind die Gebote des menschlichen Zusammenlebens, die auf der Zweiten Tafel standen, die Gott dem Mose gegeben hat:
    - Vater und Mutter sollen wir ehren - statt die alten Menschen belachen und allein zu lassen
    - Nicht morden sollen wir - und sehen mit Erschrecken, wie viele Morde hier im Ort passieren und wie unglaublich viele Kinder noch im Mutterleib getötet werden.
    - Die Ehe achten sollen wir - in einem Land, das aus eigener Tradition Ehebruch und Ehescheidung in Fülle kennt und daher dem nichts entgegensetzen kann, was an Freizügigkeit aus dem Ausland kommt.
    - Nicht stehlen sollen wir - und sehen wie gestohlen, betrogen, erpresst und schikaniert wird; wie oft haben wir uns selbst am Eigentum anderer oder der Gemeinschaft vergriffen?
    - Nicht lügen sollen wir - und sind doch von einer Kultur geprägt, in der von Staats wegen gelogen wurde und die Wahrheit nichts galt.
    All diese Gebote sind bekannt. Nicht nur an anderen Menschen, sondern auch an uns selbst sehen wir, wie Verstöße gegen die Gebote und wie Schuld uns das Leben schwer machen. Für manche dieser Gebote gibt es daher auch Gesetze des Staates - aber bei Leibe nicht für alle.
  • Was aber ist mit dem Anfang der Zehn Gebote? Was ist mit jenen drei Geboten, die auf der Ersten Tafel standen, die Mose von Gott erhalten hat? Haben diese Gebote die gleiche Bedeutung? "Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbild machen ... Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. ... Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; ... Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig!"
    Es fällt auf, dass diese Gebote oft ganz klein geschrieben werden. Natürlich, wenn es um Freiheit der Religion geht. Aber selbst bei Christen und Katholiken habe ich oft den Eindruck, dass diese Gebote für nicht so wichtig genommen werden, wie die Gebote, die das Leben, die Gerechtigkeit, die Treue und die Wahrheit schützen. Leicht wird übersehen, dass die Zehn Gebote alle zusammen hängen - und nur zusammen gelebt werden können.
  • Wir müssen erst wieder lernen, Gott zu achten, ihn allein zu ehren, seinen Namen heilig zu halten und mit ihm den Tag der Ruhe und der Feier heilig zu halten, damit das Leben nicht in der tödlichen Betriebsamkeit erstickt, in der die Menschen sich vor anderen Göttern niederwerfen und anderen Göttern dienen, Göttern, die sie sich selbst gemacht haben und Götter, zu denen sich Menschen selbst gemacht haben. Erst wenn wir lernen, Gott allein zu achten, und Gott allein zu lieben, mit ganzem Herzen und ganzem Sinn, werden wir Kraft finden, auch die Gebote zu achten und zu lieben, die das Zusammenleben von Menschen in Freiheit möglich machen. Die beiden Tafeln der zehn Gebote gehören zusammen.

3. Gott

  • Wenn wir andere Götter verehren, dann verleugnen wir nicht nur Gott. Wir haben auch den ersten Schritt getan, um die anderen Gebote zu brechen.
    Egal ob wir Dinge zu Göttern machen und sie anbeten, ob wir uns anderen Menschen bedingungslos unterwerfen oder uns selbst als Götter fühlen - wir haben den ersten Schritt gemacht, diesen anderen Göttern zu opfern. Menschen opfern dann die Wahrheit oder gar das Leben dem Anspruch der Götter: Konsum oder Ideologie, Personenkult oder Egoismus.
  • Wenn wir den Namen Gottes mißbrauchen, dann haben wir nicht "nur" gegen irgendwelche dogmatische Regeln verstoßen, sondern den ersten Schritt getan, die anderen Gebote zu brechen.
    Hier bei den Rußlanddeutschen1 habe ich leider schon oft gesehen, dass der Name Gottes mißbraucht wird. Oft stammt der Einfluss aus Deutschland von Menschen, die sich Christen und Katholiken nennen, aber es nicht sind. Sie lehren, Gott zu mißbrauchen, indem man bestimmte Gebete sprechen muss, um Gott zu zwingen, dies zu tun oder jenes zu lassen.
    Jeder der meint, wenn er nur bestimmte Gebete soundso oft spricht, kann er etwas bewirken, hat Gottes Namen mißbraucht und sich zum Zauberer gemacht. Unheil kommt nicht daher, dass ich zur falschen Zeit in den Spiegel schaue. Unheil ist, wenn ich wie ein heidnischer Zauberer den Spiegel verhänge und meine, damit Gott zu beeinflussen. Alle Novenen und Gebete nützen nichts, auch wenn sie noch so oft gesprochen werden, wenn der Mensch sich nicht zu Gott, Gottes Gerechtigkeit und seinen Geboten bekehrt.
    Auch wer meint, durch Beten sich verläßlich vor äußerem Schaden bewahren zu können, begeht eine schwere Sünde und verstößt gegen das Zweite Gebot. Unser Herr ist am Kreuz gestorben und nach ihm haben viele Märtyrer schweren Schaden an ihrem Leib erlitten um des Glaubens willen. Das ist nicht geschehen, weil sie zu wenig gebetet hätten oder bestimmte, angeblich "vorgeschriebene" Gebete nicht gesprochen hätten. Deswegen verstößt jeder gegen die Liebe Christi und die Gebote Gottes, der behauptet, dass die äußere Verrichtung von Gebeten oder das Aufhängen bestimmter Bilder vor leiblichem Schaden bewahrt.
  • Den Sonntag, den ersten Tag der Woche, den sollen wir heilig halten, weil Gott vom Werk der Schöpfung ausruhte und durch seine Ruhe den Sabbat geheiligt hat. An den einzelnen Tagen der Schöpfung hat er verschiedene Dinge geschaffen. Am siebten Tag aber hat Gott ausgeruht, "tief durchgeatmet", wie es in der Bibel heißt2.
    Dieser Tag lässt die Dinge zusammen schauen, lässt die Güte Gottes sehen. Wir feiern diesen Tag am Sonntag, an dem Christus auferstanden ist, und die Schöpfung das Neue Licht gesehen hat. Wenn wir an diesem Tag Gottes Wort hören und Gott loben, wenn wir die Arbeit unterbrechen, um uns an unsere Berufung zu erinnern, Gottes Abbild zu sein, dann kann durch uns der lebendspende Geist aller Gebote fließen, wie Strom durch eine Leitung. Gottes Leben kann dann alle Bereiche umfassen und in der Welt die Wahrheit, die Treue und die Gerechtigkeit erneuern. Amen.