Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 6. Sonntag der Osterzeit Lesejahr A 2023 (Johannes)

Zurück zur Übersicht von: 6. Sonntag der Osterzeit A

14. Mai 2023 - St. Peter, Sinzig

1. Tyrannen

  • Tyrannen behaupten, Gesetze zu lieben. Sie schreiben zum Beispiel ein Gesetz, aufgrund dessen man eine "Sonderoperation" nicht "Krieg" nennen dürfe. Und sofort sei es dann nicht der Tyrann, der das fordert, sondern das vom Parlament beschlossene Gesetz. Weil man Unrecht so gut darin verstecken kann, lieben Tyrannen Gesetze. Das ist - fast - immer so.
  • Im Kleinen gibt es analog die Brettspiel-Tyrannen. Während des Spieles holen sie auf einmal Gesetze hervor, Spielregeln, an die man sich nun mal halten müsse. – Auffällig nur, dass die Regel erst benannt wird, wenn sie dem Tyrannen zupasskommt. Daher ist der Verdacht wohl nicht unbegründet, dass nicht die Liebe zu Gesetz und Regeln, sondern die Liebe zum eigenen Vorteil das Motiv ist.
  • Tyrannen schaffen sich ihre Gesetze und behaupten scheinheilig, sie seien doch nur gesetzestreu. Das aber ist Lüge, nicht Wahrheit. Wie auch sonst Tyranneien nicht den Geist der Wahrheit, sondern die Lüge zum Kennzeichen haben. Alles andere ist für sie gefährlich. Und so sitzen sie einsam auf ihrem Thron, umgeben sich mit einem Schutzwall von Gesetzen, Regeln, Scheinwahrheiten. Nichts als ihre eigene Macht und Größe haben sie im Sinn (selbst wenn sie wie im Falle Putin und Russland vorgeben, Macht und Größe ihres Volkes im Sinn zu haben).

2. Gott lieben

  • Drei Gedanken sehe ich im heutigen Evangelium; es ist ein Abschnitt aus der langen Rede, in der das Johannesevangelium versucht zu fassen, was Jesus seinen Jüngern hinterlassen hat.
    • Erstens sagt Jesus: "Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten."
    • Zweitens sagt er seinen Jüngern und Freunden: Ihr werdet dadurch fähig, den Geist zu empfangen, den er euch sendet, den Geist der Wahrheit.
    • Und drittens: So seid ihr nicht Waisen in der Welt, sondern ihr erlebt, dass Gott euer Vater ist.
    • Am Ende wird das noch Mal in einem Satz zusammengefasst: "Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt", wer Christus liebt, bleibt in der Liebe Gottes, des Vaters, und der wird erkennen, dass dieser Gott in Christus ist.
  • Damit ist Jesus ganz in der Tradition des Glaubens des Volkes Israel. Denn die Liebe zu Gott und die Dankbarkeit für das Gesetz, das der HERR seinem Volk gegeben hat, sind der Kern dieser Identität. Wir werden gleich ein Lied ("Wohl denen", GL 543) singen, das dem großen Psalm 119 nachgedichtet ist, der in 175 Versen von der Schönheit des Gesetzes singt: "Dir sei Dank allezeit, / weil du mich lehrst die Rechte / deiner Gerechtigkeit." Und auch: "Durch deinen Geist, Herr, stärke mich", und: "Dein Wahrheit bleibt zu aller Zeit" (wobei hier Wahrheit und Treue Gottes zusammenfallen).
  • Jesus offenbart sich also seinen Jüngern, als der, in dem dieses Gesetz Gottes, in dem Gottes Treue ein Gesicht bekommen hat. Die Liebe zu seinen Geboten und die Liebe zu ihm sind untrennbar die Voraussetzung, um Gottes Geist der Wahrheit und Treue zu erfahren.

3. Konsequenzen

  • Die christliche Antwort auf die Tyrannei ist also paradoxerweise die Liebe zum Gesetz. Doch während die Tyrannen durch ihre Gesetze nur ihrer Willkür ein Mäntelchen umhängen, bindet die Bibel das Gesetz an die Wahrheit Gottes. Im Namen seiner Wahrheit darf Widerstand geleistet werden gegen die Tyrannei. Doch eben nur, wenn die Lüge der Tyrannen nicht nur durch neue Lüge derer ersetzt wird, die sich die Tyrannen unterwerfen wollen. –
    Ganz konkret ist das im Widerstand der Ukraine gegen den Moskauer Kolonialkrieg. Der Widerstand hat eine Seite seiner Berechtigung in der Brutalität der Angreifer. Aber auf Dauer wird das nicht gehen ohne die andere Seite der Berechtigung: die Freiheit und Wahrheit in der Gesellschaft und dem politischen System der Angegriffenen selbst. Da die Wahrheit bekanntlich zu den ersten Opfern des Krieges gehört, liegt hier eine zentrale Herausforderung nicht nur für die Ukraine, sondern für alle, die sie unterstützen wollen.
  • Gebote und Gesetz sind unverzichtbar. Aber sie brauchen die Wahrheit Gottes. Mir ist das so wichtig, weil immer wieder geschrien wird: "Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz muss er sterben" (Joh 19,7) – nicht zuletzt da, wo die Würde des Menschen der Ort der Gegenwart Gottes ist. Dass Jesus sich als "Sohn Gottes" offenbart, macht ihn zum Angriffsziel der falschen Gesetzeshüter: "nach dem Gesetz muss er sterben, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat" (ebd.). So bricht Gott die falsche Enge des Gesetzes auf durch das Antlitz des Menschensohnes.
  • Das führt zu einer letzten Anmerkung. Neben dem offenen Tyrannen gibt es auch die Tyrannei der Enge des Denkens. Seit Beginn seines Pontifikates hat Papst Franziskus das zu einem seiner zentralen Themen gemacht. Ja, auch er fordert "Ein Herz, das das Gesetz lieben soll, weil das Gesetz von Gott ist". Doch typisch Franziskus fügt er sofort hinzu, dass dieses Herz "auch die Überraschungen Gottes lieben soll", weil sein "heiliges Gesetz nicht Selbstzweck ist". Jesus ist für den Papst diese überraschende Seite Gottes. Wo das Gesetz tief in das Herz geschrieben ist, da wird dieses Herz wie Jesus immer auf die Menschen zugehen, besonders die am Rand, die anders sind und anderen suspekt sind. "Wenn ihr mich liebt", sagt Jesus, und meint damit seine Weise, das Gesetz Gottes zu leben. Ohne diese Liebe, droht uns in unserem Glauben jedes Gesetz zur Tyrannei zu werden – ganz so wie im politischen Bereich jedes Gesetz, das auf die Würde des Menschen vergessen hat.

Zitat aus Papst Franziskus: Frühmesse Im Vatikanischen Gästehaus "Domus Sanctae Marthae". Der Gott der Überraschungen.  Montag, 13. Oktober 2014. L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 43, 23. Oktober 2014
https://www.vatican.va/content/francesco/de/cotidie/2014/documents/papa-francesco-cotidie_20141013_meditazioni-95.html