Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt 2010 zum 5. Sonntag im Lesejahr C

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7. Februar 2010 9.30 und 11.30 Uhr - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

Dieser Text nimmt nur im letzten Absatz ausdrücklich Bezug auf das Sonntagsevangelium. Ansonsten ist er der Versuch, angesichts der Fälle von Kindesmissbrauch durch Priester aus dem Jesuitenorden und dem viel zu langem Schweigen eine Sprache zu finden, die sich der Situation stellt. Gedanken aus dem Text wurden im Anschluss an den Gottesdienst für diejenigen, die bleiben wollten, vorgetragen und die Möglichkeit zum Gespräch gegeben.

1.

  • Ich kann nur über Erfahrungen reden und versuchen sie zu verstehen. Selbst habe ich keinen Missbrauch erlebt. Aber ich bin Teil einer Institution, dem Jesuitenorden, in deren Reihen es nicht nur Übergriffe, Gewalt und Missbrauch gab, sondern die als Institution es nicht verhindert hat. Dem muss ich mich stellen, weil es meine Institution ist, mein Orden. Ich gehöre zu der Gemeinschaft aus deren Mitte das getan wurde, und deren Kultur möglich gemacht hat, dass Kinder nicht reden konnten und Erwachsene weggeschaut haben. Ich bin es den Opfern schuldig, jetzt nicht abzutauchen, so sehr ich am liebsten verschwinden würde vor Scham. Wie sehr würde ich heute lieber nicht ein Pfarrer sein, der am Sonntag predigen muss - und kann nicht über etwas anderes reden, dem Thema nicht ausweichen und so sprachlos bleiben, wie ich mich fühle.
  • In den Tagen nach Bekanntwerden des Briefes, den die Berliner Jesuiten an 600 Altschüler geschrieben haben, damit diese sich melden, bin auch ich mehrfach von Leuten angesprochen worden, die entweder selbst als Schüler Opfer von Übergriffen wurden oder das mitbekommen haben. Sie haben mich angesprochen, weil sie zufällig mich aus meiner Arbeit kannten. Diese Gespräche - am Telefon und per eMail - haben mir gezeigt, wie wichtig es war, die Sache an die Öffentlichkeit zu bringen - und zwar gerade in der massiven Weise, wie es geschehen ist. Denn nur so kann Schweigen durchbrochen werden. Ich habe zugehört und gemerkt:
  • Das Erste, was wichtig ist, ist dass Opfer von Missbrauch und Übergriffen sprechen können, wenn und wie sie es selbst wollen. Gerade wenn die Taten Jahrzehnte zurück liegen, kommt nach dem Schock über das, was man selbst versucht hat zu verdrängen und zu vergessen, die Erfahrung, wie schmerzhaft und doch wichtig es ist, jetzt zu sprechen. Manche werden dabei - auch professionelle - Hilfe brauchen, wenn das Trauma zurückkehrt. Diese Wunden aus der Kindheit werden vielleicht nie ganz heilen; aber Menschen, die jetzt sprechen, merken, dass das heilsam ist.
  • Das Zweite, was die Betroffenen spüren, ist Zorn, wenn sie jetzt mitbekommen, dass sie allein gelassen wurden, weil andere weggeschaut, vertuscht und die Täter nur versetzt haben. Wie viel Leid hätte vermieden werden können, wenn Verantwortliche damals gehandelt hätten, wie es heute selbstverständlich scheint. Der Zorn und die Enttäuschung steigen, wenn deutlich wird, dass das Versagen nicht Einzelfälle waren, sondern Teil einer Unkultur. Dieser Zorn heute derer, die damals Opfer waren, ist nicht nur berechtigt. Er ist auch wichtig, wenn sich etwas ändern soll.
  • Denn das ist das Dritte, was Menschen bewegt, die als Kinder Opfer waren: Was wird heute getan, dass es nicht immer noch so weiter geht? Auch um dieser Frage willen ist es notwendig, das Thema nicht möglichst schnell wieder zu vergessen, weil wieder andere Themen die Titelseiten beherrschen. Das unbeirrte Nachfragen, was wer wo damals getan hat, muss weh tun, weil sich sonst nichts ändert.

2.

  • Auf Erfahrungen hören heißt zuerst, auf die Opfer hören, so weit und so gut ich das kann. Es mag Fälle geben, wo Opfer gegen ihren Willen an die Öffentlichkeit gezerrt werden. Das darf nicht sein. Daher finde ich es richtig, dass der Provinzial der Jesuiten vor drei Jahren es nicht getan hat, weil diese Altschüler damals es nicht wollten. Statt dessen hat er uns als Jesuiten in Deutschland mit dem Thema konfrontiert und erst einmal uns zum reden motiviert. Ich selbst verdanke es ihm, dass ich mich intensiv damit beschäftigt habe. In Berlin hat es dazu geführt, dass Ende letzten Jahres sich andere Opfer gemeldet haben, die Öffentlichkeit wollten. Alles spricht dafür, dass das viele andere auch wollen. Deswegen ist es richtig, dass jetzt viel Öffentlichkeit hergestellt wird. Nicht das offene Reden über das Verbrechen ist das Problem, sondern das Verbrechen selbst und sein Verschweigen.
  • Geht das offene Reden nicht auch unaufgeregter? Ich habe die Erfahrung gemacht: Nein. Im November 2007 hatte ich in der Katholischen Hochschulgemeinde an der Universität zu zwei Veranstaltungen eingeladen über sexualisierte Gewalt in der Kirche und Missbrauch durch katholische Priester. Die Veranstaltungen waren an der Uni plakatiert, sie standen im halbjährlichen Semesterprogramm und im Internet. Trotzdem gehörten die Abende zu den am schlechtesten besuchten im Semester; gerade mal 20 Leute waren erschienen. Und noch bezeichnender ist, dass ich nicht ein einziges Mal, nicht davor und nicht danach von irgend jemand, Studenten, Professoren oder sonst jemanden darauf angesprochen wurde, weder Kritik, noch Zustimmung, noch Nachfrage. Das bedeutet: Auch vor zwei Jahren noch war Leuten das Thema zu unangenehm und zu schmuddelig, um sich damit zu beschäftigen. Der Professor aus Münster, den wir als Referenten eingeladen hatten, konnte statt dessen bestätigen: Wer sich dieses Themas annimmt, gilt bei seinen Mitmenschen als schwierig. Wer schwierige Themen aufgreift, gilt als schwierig. Lieber wird geschwiegen - und die Opfer des Schweigens sind weiter die Opfer des Missbrauchs. Deswegen weiß ich, dass es leider nicht anders geht als durch den großen Knall und die große Presse.
  • Die Presse sorgt dafür, dass jetzt nicht mehr verschwiegen wird und nicht verschwiegen werden kann. Das ist ihre Aufgabe. Für mich ist jetzt wichtig, die Fragen, Anfragen und den Zorn an mich heranzulassen und es nicht abzuschieben. Und Versuchungen zum Abschieben gibt es viele.
    Es gebe doch über zwölftausend Missbrauchsfälle in Deutschland. Mag sein, aber für mich als katholischer Priester und als Jesuit will ich nicht relativieren, indem ich auf andere zeige und abschiebe.
    Es werde von manchen Medien jetzt genüsslich über den Orden und die Kirche hergezogen. Mag sein, aber gerade weil es die Kirche ist und nicht ein Turnverein muss ich zulassen, dass dieser Maßstab an uns angelegt wird.
  • Es seien doch nur wenige Täter unter 1200 Jesuiten. Mag sein, aber jeder einzelne ist zu viel und stellt die Frage, was hätte getan werden müssen, um das zu verhindern. Vor allem aber kam zu den Missbrauchstätern das Verschweigen und Verdrängen.
  • Zur notwendigen Aufklärung gehört auch, genau zu fragen, wer Warnungen ignoriert, Akten nur abgeheftet und Täter versetzt hat. Das muss rauskommen. Aber es wäre ein fatales Verdrängen, nur auf die Verantwortlichen von damals oder heute zu zeigen. Es war nicht nur individuelles Versagen. Es gab eine Tradition und Kultur, die das möglich gemacht hat. Diese Kultur hat es sicher auch außerhalb des Ordens gegeben. Aber gerade deswegen wäre es nötig gewesen, dagegen zu halten. Ich sage das nicht, um andere zu verurteilen, sondern mir selbst klar zu machen: Ich heute, wir Jesuiten heute können die Verantwortung für unsere Kultur heute nicht auf Ordens-Obere, auf die Gesellschaft oder sonst wen abschieben. Völlig absurd ist deswegen, wenn Theologen jetzt sogar auf den Papst einprügeln. Es ist absurd und ein gefährliches Abschieben, weil eine Kultur, die Missbrauch ermöglicht oder verhindert, nicht einfach per Order von Oben geschaffen oder abgeschafft werden kann. Wer den Papst kritisieren will, wird ihn kritisieren, aber ganz konkret in der jetzigen Situation würde ich mich davor hüten, das Thema Missbrauch auf ihn abzuschieben - zu leicht könnte man in die Falle gehen zu meinen, dass man es damit erledigt hat.

3.

  • Über die Kultur zu sprechen, die Missbrauch und Schweigen ermöglicht oder verhindert, heißt über das Evangelium sprechen. Nur von dort her kann Bekehrung kommen. Mit der schmerzhaften Aufklärung von Fakten kann es nur beginnen. Dann aber muss der langwierige Prozess der Bekehrung kommen. Auch wenn ich das Gefühl habe, dass sich in meinem Orden in den letzten zwanzig Jahren viel zum Positiven getan hat, darf mich das nicht davon ablenken, dass ich und wir Bekehrung brauchen und Bekehrung einer Lebens-Unkultur ein Prozess ist, der in Jahren zu messen ist. Dazu brauchen wir auch Kritik und Ermutigung, wenn das Thema in ein paar Monaten aus den Schlagzeilen verschwinden würde.
  • Das zentrale Symbol unseres Glaubens ist das Kreuz. Natürlich wissen wir auch um die Auferstehung. Aber aus jedem geistlichen Prozess weiß ich, dass zuvor das Kreuz ausgehalten werden muss. Vielfach wollen auch Katholiken heute lieber ein Kreuz ohne den Körper des Gekreuzigten. Das ist einfacher anzuschauen. Der Gekreuzigte aber ist das Bild Gottes in unserer Welt. Der Gekreuzigte steht im Mittelpunkt, nicht eine von der Auferstehung verklärte Kirche. Mein Glaube zwingt mich, das Opfer zu sehen, den Menschen, der gekreuzigt wurde. Dieses Kreuz von Golgotha muss mich dahin führen, auch in meiner Zeit und Welt zuerst das Opfer zu sehen, das gekreuzigt wird. "Was ihr dem geringsten meiner Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25, 40). Dieser Satz des Weltenrichters heißt auch: "Wenn du bei dem geringsten meiner Schwestern und Brüder wegschaust, wenn du ihr Leid ignorierst, deine Interessen und deine Selbsttäuschung über das Leid der Opfer heute stellst, dann hast du mich nicht erkannt, den Gekreuzigten". Dass wir aus unsere Liturgie und unserem Beten die Fluchpsalmen aus dem Alten Testament aussortiert haben, hat wahrscheinlich einiges damit zu tun, dass wir die Erinnerung an das Leid verdrängen und das Hinschauen auf die Menschen - und insbesondere Kinder - nicht ertragen, aus deren Mund diese Gebete zu Gott schreien wollen.
  • Es ist wichtig im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen über Sexualität zu sprechen. Aber es geht nicht darum, dass der Papst mal eben den Zölibat abschafft. Jesus selbst lebte zölibatär. Wenn der Zölibat die Wurzel des Übels wäre, dann gäbe es auf der Welt keinen Missbrauch von verheirateten Männern. Die Zölibatsdiskussion jetzt ist wieder nur ein Versuch zu verdrängen. Man kann gerne gegen den Zölibat sein. Aber so viel habe ich aus der Literatur über sexualisierte Gewalt gegen Kinder gelernt: Im Zentrum steht die Frage der Gewalt. Es ist wichtig über Sexualität zu sprechen, weil es dabei um die tiefen Kräfte im Menschen geht, denen ich mich stellen muss, wenn ich in mir meine eigene Kraft zur Liebe und meine Versuchbarkeit zur Gewalt entdecken will. Wir hatten im Jesuitenorden eine fatale Tradition, über all das nicht zu sprechen. Erst in den letzten zwanzig Jahren ist das in einem langsamen Prozess besser geworden.
  • Nur in einer Umgebung, in der beständig über das Thema Gewalt gesprochen wird, besteht eine Chance Missbrauch zu entdecken. Mit Gewalt meine ich nicht nur die physische Gewalt, die ja zumindest in einem der jetzt bekannten Fälle eine große Rolle gespielt hat. Ich meine jede Form, in einen anderen Menschen einzudringen, ihn bloßzustellen, ihn zu manipulieren. Als Seelsorger muss ich mich immer wieder mit dieser Frage auseinander setzen, ob ich den anderen, gerade Heranwachsende und Kinder, in ihrer Persönlichkeit und ihrem Recht auf Intimität verletze. Ich darf einen anderen nicht durch mein Fragen bedrängen und schon gar nicht seine Seele "führen" wollen.
    Wir hatten in der katholischen Kirche regelmäßig und verbreitet die Situation, dass in der Beichte Menschen bedrängt wurden, statt sie durch das Wort der Vergebung zu befreien. Die Beichte ist heute deswegen bei uns fast ausgestorben, weil in ihr von Priestern viel zu oft Menschen nicht respektiert wurden, sondern geistig bloßgestellt. Dabei kann die Beichte so unendlich heilsam sein, aber der Schatten der "übergriffigen" Beichte von damals liegt auf der Beichte bis heute, obwohl es immer auch viele sehr gute Beichtpriester gab.
    Ich kenne das alles nicht aus eigener Erfahrung, aber aus der Schilderung sehr vieler älterer Menschen, die das Ausforschen in der Beichte teilweise bis heute schwer belastet. Ich erwähne das deswegen, weil es ein zentrales Beispiel für eine Un-Kultur ist, die im geistigen Bereich übergriffig wurde und damit unbewusst denen kulturellen Schutzraum bot, die dann krankhaft im körperlichen Bereich in den verletzlichen Raum anderer Menschen eingedrungen sind und Kinder durch ihre Berührungen oder Gewalt schwer verletzt haben.
  • So lange wir nur auf die einzelnen Täter schauen, übersehen wir, warum das Umfeld weggeschaut hat, wie das Umfeld die Schuldgefühle, die die Täter den Kindern eingepflanzt hatten, noch verstärkt hat, und wie es möglich war, dass Verantwortliche nicht gehandelt haben, obwohl sie hätten wissen können und handeln müssen. Die überhöhten Erwartungen an Priester (progressive wie konservative gleichermaßen in den jeweiligen Milieus!) gepaart mit einer von ihnen dankbar angenommenen Verehrung (als besonders glaubenstreu oder besonders fortschrittlich), das Gefühl "wichtig" zu sein, führt viel zu leicht zu einem Elitedenken, das nicht wahrhaben will, was doch wahr ist.
  • Paradoxer Weise kommt dazu ein anderes: Weil ich das teilweise selbst erlebt habe, weiß ich, dass das Problem bei den damals verantwortlichen Vorgesetzten im Orden nicht ist, dass sie selbstherrlich waren oder klerikal borniert. Das wird es an anderer Stelle auch gegeben haben. Ich habe lange Zeit vielmehr die Ordensleitung als schwach und zögerlich, vielleicht sogar verunsichert erlebt. In den achtziger Jahren haben wir das bei uns Jesuiten mal auf den treffenden Begriff "Verschonungspluralismus" gebracht: Lass du mich in meiner Welt in Ruhe, dann lasse ich dich in deiner Welt in Ruhe. Nur bitte keine Zumutungen. Das war - und ist manchmal noch - gerade bei Jesuiten verbreitet. Das hat vermutlich gerade in diesen Jahren mit dazu beigetragen, dass Obere, die ohnehin schon durch die Umwälzungen verunsichert waren, ihre Mitbrüder lieber versetzt als aus dem Orden entlassen haben. Man hat lieber zum Psychiater geschickt und Besserungsbeteuerungen glauben wollen, statt schmerzhafte Entscheidungen zu treffen. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt zum "verständnisvollen" Mitleid mit dem Täter, statt zu realisieren, welches Leid die Opfer ertragen müssen.
  • Die Bekehrung kann nur aus dem Evangelium kommen. Gott ist barmherzig, aber nicht um den Preis der Wahrheit. Die Option Gottes für die Armen, die Witwen und die Waisen, die gerade auch in Jesus eindeutig ist, hat ihre Kehrseite in der kritischen Auseinandersetzung mit der Macht. Jesus beruft Menschen in das Amt der Apostel. Aber das Evangelium macht gerade an jeder Stelle, an der Petrus auftaucht deutlich, dass dieser als Mensch fehlbar ist. Er kann für die Kirche das Glaubensbekenntnis sprechen. Aber es ist keine Koketterie, wenn er über sich selbst sagt: "Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder." Gerade diesem überträgt Jesus das Amt in der Kirche. Das bedeutet eine klare Aufgabe, eine klare Rolle. Wie für Petrus gilt das für jeden Bischof und jeden Priester. Sie müssen ihre Aufgabe und Rolle annehmen und wahrnehmen. Aber sie müssen wissen, dass sie selbst Sünder sind und diese Kirche von Gott geliebt und geheiligt ist, aber eben als Kirche der Sünder auch immer mit sündigen Strukturen, mit sündiger Binnen-Kultur, mit Unrecht zu tun hat, das in und durch die Kirche geschieht. Wir lernen das am ehesten durch den Blick auf die Opfer und durch das Hinhören auf das, was sie uns zu sagen haben.