Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 5. Sonntag der Osterzeit Lesejahr B 2015 (1.Johannesbrief)

Zurück zur Übersicht von: 5. Sonntag der Osterzeit B

3. Mai 2015 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Wahrheit

  • Wahrheit kann empfangen und erworben werden, aber man kann sie nicht für sich besitzen. Denn Menschen, die meinen, Wahrheit für sich zu besitzen, hören auf, sie zu suchen, auf sie zu hören und sie zu tun. Auf das Tun aber kommt es an. Gerade im Johannesevangelium und den Johannesbriefen fasst das Wort "Wahrheit" zusammen, wofür Jesus steht.
  • Manche werden zynisch, um sich gegen die Zumutung der Wahrheit zu schützen. Vielleicht haben sie Menschen erlebt, die den angeblichen Besitz von Wahrheit gegen andere verwenden. Vielleicht haben sie aber auch nur Angst, ihr Leben zu wagen. Von außen sollte man das nicht entscheiden wollen; doch in der Regel dürfte Zynismus eine Form des Selbstschutzes sein.
  • Andere, die meisten wohl, verweisen darauf, dass wir doch nur vorläufige Wahrheiten wissen könnten, dass es letztlich nur Hypothesen geben könne, die nicht verifiziert, bestens falsifiziert werden könnten. Das ist im Bereich der empirischen Wissenschaft zweifellos ein richtiger Ansatz.
    Aber wir reden ja hier nicht von einem Faktenwissen oder Wissenschaftstheorie. Im Evangelium geht es vielmehr um die gelebte Wahrheit, die Wahrheit des Lebens, die empfangen und erworben werden muss, ohne sie je besitzen zu können, denn dann wäre dieses Leben zum Stillstand gekommen und würde verdorren.

2. Wahrheit empfangen

  • Die Wahrheit, von der die Rede ist, kann nur empfangen werden. Nur wer bereit ist, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht so wie er sie gerne hätte, ist fähig zur Wahrheit. In dem Maße, in dem unsere Wahrnehmung der Welt durch Medien vermittelt ist, werden wir dahin gedrängt, nur das zu sehen, was wir sehen wollen - was uns das eher zu gefügigen Kunden macht.
  • Die Tugend, die dazu befähigt, die Dinge zu sehen, wie sie sind, nannte man früher Keuschheit. Das dürfte alle überraschen, die sich unter keuschen Menschen nur blutleere Langweiler vorstellen können. Tatsächlich aber ist die Keuschheit, die Fähigkeit absichtslos zu sehen und zu empfangen. Vor allem, wenn ich Gott in seiner Schöpfung wahrnehmen und erfahren will, muss ich in der Keuschheit wachsen, sonst begegne ich aller Orten nur meinen eigenen Wunschbildern.
  • Wer die Dinge sehen kann wie sie sind, der kann sie verändern. Wer die Dinge nur sieht, wie er sie sehen will, wird sie nie zum besseren ändern können. Denn die Wahrheit im Grunde von allem kommt aus Gott. Erst der Mensch macht sie aus Selbstsucht zur Lüge.
    Mich würde nicht wundern, wenn als Grund für die Kostenexplosionen bei Groß-Projekten vor allem wäre, dass die Entscheider ihre eigene Bedeutung wichtiger nehmen, als die Fakten, die ihnen die Fachleute vorlegen. Ich sehe sie vor mir, wie sie im Gestus des Großherrschers Unterlegen, die nicht in ihr Bild passen,  vom Tisch wischen. Was wäre das für eine Schlagzeile: Kosten der Elbphilharmonie vervielfacht wegen Unkeuschheit der Verantwortlichen!

3. Wahrheit tun

  • "Wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit." Dieser Kernsatz bedeutet einerseits: Das tun, was man behauptet, und nicht nur davon reden.
    Aber es fällt auf, dass die Formel "Tat und Wahrheit" offenbar die Wahrheit nicht dem Wort zurechnet, sondern dem Tun. Wahrheit ist also nicht einfach empfangen, sondern ein tätiges Empfangen.
  • Das Empfangen-Können der Wahrheit ist keineswegs ein passives Geschehen, sondern immer ein Tun. Es ist vor allem Arbeit an sich selbst. Denn niemand kann Liebe erkennen, der nicht in Liebe und Respekt vor anderen handelt. Niemand kann Wahrheit empfangen, der sich nicht der aktiven Mühe unterzieht, die Motive aufzudecken; wir nhemen die Macht dieser Motive meist gar nicht wahr, weil wir sie für 'normal' und selbstverständlich erachten.
  • Mag sein, dass ich vor der Wahrheit zurückschrecke, weil ich weiß, wie sehr mein Handeln und Tun dahinter zurück bleibt. In der Sprache des Johannesbriefes: Ich ahne dass mich dann "mein Herz verurteilt". Doch "Gott ist größer als unser Herz, und er weiß alles". Alle Wahrheit ist geborgen in Gottes Barmherzigkeit. Im Vertrauen auf ihn kann ich mich aufmachen ein Mensch sein zu wollen, der in der Wahrheit lebt. Amen.