Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 32. Sonntag im Lesejahr B 2006 (Markus)

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12. November 2006 - Universitätsgottesdienst St. Ignatius Frankfurt

1. Nehmt euch in acht vor den Schriftgelehrten

  • Die Schelte der Schriftgelehrten sei ziemlich pauschal, meinte ein Student zu diesem Evangelium. Ich hätte mich nicht getraut, das zu sagen, da ich wohl selbst zu den Schriftgelehrten gehöre als studierter Theologe. Die Schriftgelehrten oder Gesetzeslehrer waren seit dem Ende der Zeit der Propheten die theologische Autorität in Israel. Zugleich waren sie damit aber auch die Ausleger des Rechtes. Vielleicht ahnte der Student, dem die Schelte zu pauschal war, dass er auch gemeint sein könnte, denn er studiert Jura und will somit selbst ein Schriftgelehrter werden.
  • Aber es stimmt. Jesus spricht ein abschließendes Urteil über die Schriftgelehrten. Zwar hatte er noch kurz zuvor - das Evangelium des letzten Sonntags hat davon berichtet - mit einem der Schriftgelehrten einen sehr harmonischen Diskurs geführt. Ansonsten aber sind diese Gelehrten vom Anfang seines Wirkens an die Hauptgegner Jesu gewesen. Sie, die die Heilige Schrift kannten, hätten den Messias erkennen müssen, in dem die Schrift sich so vielfältig erfüllt. Statt dessen haben die Autoritäten nur versucht, ihm Fallen zu stellen und bald schon beschlossen, ihn auszuliefern. Der Stand der Schriftgelehrten hat versagt.
  • Jesus bringt dieses Versagen in Zusammenhang mit einer herrschenden Mentalität. Er wendet sich an das Volk, nachdem die Führer des Volkes sich verschlossen haben: "Nehmt euch in acht vor den Schriftgelehrten!", ruft er den Leuten zu. Denn diese sind beeindruckend. Sie wissen sich zu inszenieren. Sie schaffen sich gesellschaftliches Ansehen und werden dadurch zu Verführern. Jesus weiß schon lange, dass sein Schicksal besiegelt ist und er in der Unansehnlichkeit des Kreuzes enden wird. Umso mehr warnt er davor, das Heil im Glanz der Macht zu suchen.

2. Seht euch eure Priester genauer an

  • Die Schelte gegen die Schriftgelehrten ist aufgezeichnet worden als Mahnung. Das Evangelium wurde verfasst für die christliche Gemeinde, die sich zu dieser Zeit noch ganz als Teil Israels verstanden hat. Bis zur Zerstörung des Tempels im Jahre 70 haben auch die Christen in Jerusalem selbstverständlich am Tempelgottesdienst teilgenommen. Das wissen auch die Christen in den verstreuten Gemeinden rings um das Mittelmeer. Daher ist die Rede von "den Schriftgelehrten" nicht abstrakt. Sie wird - zunehmend - zur Frage an die junge christliche Kirche.
  • Ich bin Theologe und gehöre heute zu den Schriftgelehrten. Hier im Gottesdienst sitze ich auf einem herausgehobenen Platz und trage ein langes Gewand. Allerdings nur hier, nicht "auf den Straßen und Plätzen". Da heutige Theologen nicht mehr als Rechtsexperten arbeiten, komme ich an der Stelle nicht in Gefahr, die Witwen "um ihre Häuser zu bringen". Aber dennoch muss ich mich fragen lassen, wo die Kritik Jesu auch mir gilt.
  • Es wäre kurzschlüssig, das Messgewand auszuziehen. Denn bei diesem Gewand geht es gerade nicht um die Herausstellung der Persönlichkeit des Priesters. Im Gegenteil. Sinn des liturgischen Gewandes ist gerade zu verhüllen und etwas anderes sichtbar zu machen. Es ist Kern des christlichen Gottesdienstes - dies eingeschränkt nur bei den Kirchen, die nach der Reformation andere Wege gegangen sind - dass Christus in der Hl. Messe selbst wirkt und daher in diesem kultischen Rollenspiel durch einen Priester dargestellt wird. Die Unwürdigkeit des Menschen unter dem Gewand wird dadurch eher betont.
    Es ist in dem Zusammenhang zumindest der Erwähnung wert, dass im Evangelium eine vergleichbare Kritik an den Priestern des Tempels nicht vorkommt. Das liegt nicht nur daran, dass die Priester weniger Einfluss hatten als Schriftgelehrte. Vielleicht spielt eine Rolle, dass viele Priester zum Glauben an Jesus gekommen sind (vgl. Apg 6,7) Das liegt daran, dass die Priester ihren Dienst taten am Tempel und im Gottesdienst. Die Schriftgelehrten hingegen haben ihren Dienst nicht getan: sonst hätten sie aus der Kenntnis der Hl. Schrift erkennen können, wer Jesus ist und dass er von Gott kommt. Darin haben die Schriftgelehrten versagt.

3. Seht auf die Witwe

  • Außerhalb der Messe jedoch findet die Schelte Jesu auch in der Kirche heute hinreichend Anlass. Denn in der Tat gibt es gerade in der katholischen Kirche ein Ausmaß an Klerikalismus, in dem sich Kleriker und sich konservativ dünkende Christen zusammentun, den Priestern und Bischöfen "bei jedem Festmahl die Ehrenplätze" geben und ihre Priester am liebsten in Sutane sehen, um sie in der Öffentlichkeit zu grüßen. Ob Päpste, Bischöfe oder Priester dadurch allein bereits zu glaubwürdigen Lehrern des Evangeliums - Schriftgelehrte eben - werden, wage ich zu bezweifeln. Deswegen doch beeindrucken eher bescheidene Päpste, Bischöfe und Priester als barocke.
  • Es geht aber tiefer. Jesus sieht in das Herz. Gott sieht das Herz. Und deswegen ist es bedeutsam, dass das Markusevangelium an das Ende, vor der Leidensgeschichte Jesu (es folgt nur noch die große Endzeitrede), zwei Abschnitte stellt: Die Warnung vor den Schriftgelehrten richtet sich an das Volk. Das Lob der Witwe, die Jesus zufällig im Tempel beobachtet hat, richtet sich an die Jünger. Zwischen dem "Typus Schriftgelehrter" und dem konkreten Beispiel der Witwe muss jeder von uns sich entscheiden, wenn wir den Weg Jesu weiter mitgehen wollen.
  • Die Witwe illustriert auf ihre Weise, was es bedeutet, Gott aus ganzem Herzen zu vertrauen. Jesus stellt es so dar, dass die "zwei kleinen Münzen", die sie im Tempel opferte, alles war, was sie noch zum Lebensunterhalt hatte. Sie hat also nicht eine gesicherte Existenz aufgegeben. Sondern sie hat auch das kleine Etwas, das sie noch hatte, Gott anvertraut. Niemand hätte das bemerkt. Die großzügigen Gaben der Reichen waren spektakulärer. Jesus aber spürt, dass diese Frau mit ihrer Gabe vor Gott ausgedrückt hat, dass sie ihre ganze Hoffnung auf den Herrn setzt. Ihre Armut macht sie zum Zeichen der Hingabe und des Vertrauens. "Nehmt euch in acht", hatte Jesus gewarnt: diejenigen, die nur zum äußeren Schein leben, mögen viel besitzen. Innerlich sind sie leer. Amen, ich sage euch: Achtet lieber auf diese Witwe in eurer Mitte, nehmt sie zur Richtschnur, und lernt von ihr das Vertrauen, dass Gott uns trägt. Achtet aber auch auf die Witwe und spürt, dass ihr Opfer im Tempel uns andere mahnt, die Not der Armen in unsere Mitte zu sehen, damit der Tempel - die Kirche - zum Haus wird, in dem man zu Recht sein Vertrauen in Gott setzen kann. Amen.