Predigt zum 32. Sonntag im Lesejahr B 2000 (Markus)
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12. November 2000 - khg Göttingen, Universitätskirche St. Nikolai
1. Schlechte Vorbilder
- Manches ändert sich nicht so schnell. Zum Beispiel schlechte Vorbilder. Allerdings sehen sie zu verschiedenen Zeiten verschieden
aus. Keineswegs nämlich waren Schriftgelehrte der Zeit Jesu allesamt besonders schlechte Menschen und keineswegs waren alle
anderen Menschen zur Zeit Jesu in Ordnung. Noch viel weniger hat sich das, worauf Jesus aufmerksam macht, erledigt, wenn die
Schriftgelehrten in langen Gewändern von der Weltbühne abgetreten sind.
- Vielmehr ist uns das Problem durchaus erhalten geblieben. Warum
Jesus sich die Schriftgelehrten seiner Zeit aussucht, um den
Menschen damals deutlich zu machen, wovor er warnen will, erklärt sich
schnell. Diese waren die Angesehensten und
Einflussreichsten des Volkes in seiner Zeit. Daher trat in ihren Kreisen
besonders deutlich die Versuchung in Erscheinung, mit der
sich jeder Mensch auseinander setzen muss.
- Schriftgelehrte zur Zeit Jesu sind zunächst einmal sowohl
religiöse wie politische Elite. Beides geht ineinander. Sie sind also
nicht
minder Rechtsgelehrte als Gottesgelehrte. Ihre wissenschaftliche
Kompetenz haben manche von ihnen mehr und mehr dazu
gebraucht, sich in Staat und Gesellschaft den Zugang zu
Schlüsselpositionen zu sichern. Da es keine Propheten mehr gab, hatten
sie
in ihrer Fächerkombination eine Monopolstellung.
Man kann das durchaus positiv sehen, dass hier der Einfluss und das
Ansehen denen zukommt, die gelehrt sind. Fachliche und
intellektuelle Kompetenz ist Basis von politischem Einfluss, z.B. im
Hohen Rat. (Wie positiv das zu sehen ist mag man daran sehen,
dass vor vier Tagen der Kandidat zum US-Präsidenten (beinahe??) gewählt
wurde, der nach Ansicht sogar seiner Anhänger die
geringere Fachkompetenz hat - aber eben medial besser rüberkommt!). Wer
aber dann im Rampenlicht steht, muss aufpassen, was
dieses mit ihm anstellt.
2. Die ersten Plätze
- Jesus warnt vor einer bestimmten Haltung. Es lohnt sich, das im Detail anzuschauen.
- Das zeitgemäße outfit für Männer von Rang waren "lange Gewänder". Es geht darum aufzufallen - und auch wieder nicht.
Denn die Gewänder sollen nicht etwa Individualität ausdrücken, sondern jedem, der sie sieht, deutlich machen wer man ist.
Dafür ist Mode unerlässlich. Wichtig ist, dass das Statussymbol erkannt wird.
- Die Kleidung soll dafür sorgen, dass man "auf den Straßen und Plätzen" gegrüßt wird - und zwar zuerst von den anderen, so
dass man sich anschließend entscheiden kann, ob man zurück grüßt oder nur huldvoll lächelt. "Straßen und Plätze", das sind
in den Zeiten ohne Fernsehen und Zeitung die Orte, an denen Öffentlichkeit hergestellt wird. Es geht um Einschaltquoten und
darum, wer wie viel Sendezeit erhält. Wer in der Öffentlichkeit präsent ist, ist wichtig.
- Dabei wird deutlich, dass Anerkennung und Macht immer nur um den Preis zu haben ist, dass andere sie nicht haben. Von
den Schriftgelehrten wird zweimal betont, dass sie die ersten Plätze suchen: sowohl in der Synagoge als auch bei Festmählern.
Sowohl dort, wo Politik gemacht wird, als auch bei gesellschaftlichen Anlässen kann nicht jeder vorne sitzen. Daher muss
man sich nach vorne kämpfen, auf Ansprüchen bestehen, will man nicht in der Bedeutungslosigkeit versinken.
- Die so gewonnene Haltung wirkt sich natürlich auch im Geschäftsgebaren aus. Schriftgelehrte waren Rechtsanwälte und
Notare. Jeder war auf sie angewiesen. Wenn Jesus den Schriftgelehrten vorwirft, "sie bringen die Witwen um ihre Häuser",
dann ist damit vermutlich gemeint, dass diese Rechtsanwälte bei den Kleinen und Mittellosen zwar schlampige Arbeit tun,
aber um so erbarmungsloser ihr Honorar einstreichen. Bei bedeutenderen Kunden würden sie sich weder das eine noch das
andere erlauben.
- Nur gegenüber Gott wird gebuckelt. "Sie verrichten in ihrer Scheinheiligkeit lange Gebete". Solange Gott als
gesellschaftliche Norm anerkannt wird, huldigt man ihm. Festreden zu moralischen Grundwerten und abendländischer
Leitkultur festigen das gesellschaftliche Image. Daher wird kein Schriftgelehrte zögern, dem Tribut zu zollen.
- Die Götter, vor denen heute öffentlich lange Gebete verrichtet werden, haben sich längst verändert. Sonst aber mutet Jesu
Beschreibung der Schriftgelehrten höchst aktuell an.
3. Hingabe
- Was zeichnet dem gegenüber die Witwe mit ihren zwei kleinen Opfermünzen aus, dass Jesus sie uns als Vorbild hinstellt?
Die Antwort steht im Text: "Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hergegeben; diese Frau aber, die kaum das
Nötigste zum Leben hat, sie hat alles gegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt." Die zwei Münzen, die sie als Opfer
für Gott gegeben hat, sind das, was sie braucht, um gerade eben über den Tag zu kommen, mit einer Mahlzeit, nicht mehr. Es sind
ausdrücklich zwei Münzen. Die Frau hätte also einen Kompromiss schließen und eine Münze geben und eine Münze wenigstens für
ein klein wenig zu Essen für sich behalten können. Sie aber gibt alles.
Die Witwe wird dies nicht täglich tun und keiner verlangt von uns, dass
wir Selbstmord durch Hunger begehen sollen. Aber an
diesem Tag, der für die Frau vielleicht eine besondere Bedeutung hatte,
hat sie ein stilles Symbol gesucht und gefunden, das für sie
selbst Ausdruck ihrer Grundhaltung ist. Die zwei Münzen der Witwe
gehören zu den schönsten Bildern dafür, wie die Rede vom
Kreuz in einen ganz normalen Leben lebendig werden kann.
Wenn es darum geht, etwas von uns zu geben, dann wollen wir immer höchst präzise Gründe dafür haben, wissen, ob es sich lohnt.
Engagement soll Resultate zeigen. Motivation zum Tun bitte nur bar auf die Hand. Nur umgekehrt, bei den Ausreden, warum jetzt
nicht und hier nicht und überhaupt nicht, bei den Gründen, mit denen wir uns herausreden und heraushalten, da sind wir mit
globalen Ausflüchten zur Hand. Die Verhältnisse, die globalen Strukturen, das "Und Überhaupt" muss dazu herhalten, dass wir erst
gar nichts tun, keine Zeit haben, nur mit halbem Herzen dabei sind, Vorbehalte hoch hängen und so weiter.
- Die Haltung der Witwe mit ihren zwei Münzen ist Hingabe. Sie gibt
nicht irgendwas, sondern sich selbst. Damit bildet sie das
Gegenbild zu den Schriftgelehrten. Diese haben sich an ihre
gesellschaftliche Stellung verkauft und holen ihr Selbstwertgefühl beim
Trend und auf den vorderen Plätzen der Gesellschaft ab. Den Preis für
diese Haltung der Erfolgreichen zahlen die Kleinen. Wenn die
einen vorne sitzen, müssen die anderen hinten sitzen.
Und wenn dieses Verhalten sich in die Haltung des Erfolgreichen einfrisst, dann wird er alles tun und geben, um sich seine Stellung
zu erhalten. Alles, nur nicht sich selber. Wer sich auf Anerkennung und Erfolg trimmt, wird sich in sich selbst zurück ziehen, ja
vergessen wer er ist. Die steigende Zahl der Unverheirateten unter den Jungen und Erfolgreichen mag dafür Symptom sein. Sie
können nicht mehr sich selber geben.
- Einüben in Hingabe sollte daher weit oben in unserem
Terminkalender stehen (auch und gerade bei uns Geistlichen!). Dazu muss
die
Angst überwunden werden, selbst zu kurz zu kommen. Die Witwe hat es -
sicher nicht ohne schmerzhafte Erfahrungen - geschafft.
Die zwei Münzen sind ihr das Zeichen. Vielleicht ist uns das Ermutigung.
Dass wir in jeder Eucharistiefeier den Gott feiern, der sich
hingegeben hat, kann die Grundlage dafür sein, dass wir selbst auch
versuchen diesen Weg zu gehen. Amen.