Predigt zum 31. Sonntag im Lesejahr C 2010 (Lukas)
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31. Oktober 2010 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg
1. Einer läuft voraus
- Einer läuft voraus. Er gibt sich nicht damit zufrieden, in der Menge zu stehen. Er möchte nicht zu
den Kleinen und nicht zum Mittelmaß gehören und in der Masse untergehen. Er will höher hinaus.
Als Motiv benennt das Evangelium vom Zöllner Zachäus: "Er wollte gern sehen, wer dieser Jesus
sei." Ist Zachäus ein religiöser Mensch, einer der Gerechten Israels, tief durchdrungen von der
Sehnsucht, den Messias zu sehen?
- Der genaue Text des heutigen Evangeliums lässt offen, ob Zachäus das war oder erst wurde.
Wörtlich sagt er am Ende des Abschnittes zu Jesus: "Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich
den Armen, und wenn ich jemand betrogen habe, so gebe ich es vierfältig zurück!" Das ist nicht
eindeutig, zumal im Griechischen. Denn es kann heißen: "Die Hälfte meiner Güter gebe ich
künftig den Armen" oder "Die Hälfte meiner Güter gebe ich schon bisher den Armen".
- Die Einheitsübersetzung, die wir gehört haben übersetzt ungenau "Die Hälfte meines Vermögens
will ich den Armen geben"; andererseits ist das durchaus die Weise, wie der Text meistens
verstanden wird: Nachdem Zachäus Jesus gesehen hat, habe sich der Zöllner bekehrt und wolle
sich von nun an nicht mehr ungerecht bereichern. Aber der Originaltext lässt das offen. Es lohnt
sich, das Evangelium auch einmal anders herum zu lesen: Da ist einer, der bereits als Gerechter
lebt, aber die Menge hat ihn nicht anerkannt. Jesus offenbart dann, was Zachäus schon ist: "Auch
dieser Mann ist ein Sohn Abrahams".
2. Manche wollen mehr
- Das Evangelium so zu lesen weist uns auf neue Themen hin (Wie gesagt, man muss es nicht so
lesen, aber man kann es so übersetzen und verstehen). Das Thema ist dann, wie wir als Gemeinde
mit denen umgehen, die im Glauben mehr wollen, als nur sonntags zur Kirche gehen und sich im
Alltag zu bemühen, die Nächstenliebe zu leben. Das sei nicht abwertend gesagt. Für viele von uns
ist das nicht wenig, und ich habe hohe Wertschätzung für jeden, der auf diese einfache, schlichte
Weise seinen Glauben lebt.
- Dass manche mehr Sehnsucht im Glauben haben, macht sie nicht zu besseren Menschen. Aber sie
haben diese Sehnsucht und sie sind mehr auf der Suche als andere. Sie wollen auch verbindlicher
in der Glaubensgemeinschaft leben. Sie berührt die Bergpredigt mehr als andere, sie wollen
versuchen, die Feindesliebe radikaler zu leben, auf materielle Güter zu verzichten oder sie mit
anderen teilen, die Verfolgung um des Glaubens willen auf sich zu nehmen, mehr Zeit im Gebet zu
verbringen, und so weiter.
- Wir tun uns mit solchen Leuten nicht leicht. Sie sind auf bestimmte Weise unbequem. Wir nehmen
an ihnen gerne die Auffälligkeiten oder Besonderheiten wahr, mit denen wir sie in eine Schublade
stecken können: Das ist halt der Zöllner, der redet so daher und wird sich schon an anderen
schadlos halten; der läuft vorne weg und krabbelt auf die Bäume, wenn er vom Messias hört. Und
so weiter.
3. Auch dieser ist ein Sohn Abrahams
- Manche haben diese Erfahrung in der eigenen Familie gemacht. Die eigenen Angehörigen tun sich
schwer, wenn eines der Kinder oder einer von den Eltern diesen Weg gehen. Anfangs versucht
man das als "fromme Phase" abzutun. Dann gilt derjenige ein wenig als Spinner - und wird das
auch ein wenig sein. Es bleibt aber die Spannung. Wer wie Zachäus aus einer Sehnsucht lebt, Jesus
zu sehen, die über das "Normale" hinaus geht, der stellt automatisch die anderen in Frage, auch
wenn er es nicht will.
- Wir haben das auch in der Geschichte der christlichen Kirchen erlebt.
- Die katholische Kirche hat in den Orden und heute auch in verschiedenen Geistlichen Bewegungen
eine Form gefunden, solche "Sonderwege" zu integrieren. Vielleicht ist das Verständnis für solche
Berufungen heute weniger geworden, zumal wenn jemand aus dem eigenen Umfeld diesen Weg
geht. Die "katholische Gefahr" ist zudem, dass dieser Weg dann überhöht und verherrlicht wird:
Ordensleute oder Priester werden immer noch von manchen als "bessere Christen" angesehen.
Auch das ist eine sublime Form, die "Zachäusse" auszugrenzen.
- Nicht immer haben sich die, die ein radikaleres Christentum für sich entdeckt haben, in die Form
eines Ordens integrieren lassen. Immer wieder gab es Abspaltungen, weil Christen das Gefühl
hatten, ihren Weg nicht als Begleitboot zu dem großen Tanker Kirche gehen zu können. Und oft
genug hat der Tanker Kirche darauf mit Verfolgung reagiert.
- Dies ist bei Weitem kein exklusiv katholisches Problem. Gerade in diesem Sommer haben sich die
lutherischen Christen dem dunklen Kapitel ihrer Vergangenheit gestellt, als Mennoniten und
andere Täufer mit dem Wohlwollen der evangelischen Kirchen blutig verfolgt wurden. Und bis
heute tun sich die evangelischen Landeskirchen schwer mit den Gemeinschaften innerhalb ihrer
Strukturen und erst recht mit den Freikirchen, die ihre eigenen Wege gehen.
- Es gibt natürlich auch die andere Seite. Manche Christen, die für sich eine neue Radikalität des
Evangeliums entdeckt haben, gehen bewusst in die Isolation. Diese folgen nicht einfach ihrer
Berufung, sondern lehnen die "Volkskirchen" mit ihrer Durchschnittlichkeit bewusst ab, und
sprechen ihnen ab, dem Evangelium gemäß zu leben. Das gibt es auch. Deswegen sollten beide
Seiten zusammen das heutige Evangelium von Zachäus lesen, von seiner Leidenschaft Jesus zu
sehen und von seiner Bereitschaft, sein Vermögen mit den Armen zu teilen. Das entscheidende
Wort sagt Jesus: "Auch dieser Mann ist ein Sohn Abrahams". Das bedeutet: Auch dieser, der
seinen Glauben anders lebt, gehört zum Volk Gottes. Das gilt für uns "Normalos" in den Volkskirchen, denen die besondere Brufung unbequem ist. In diesem Wort Jesu können aber auch die Geistlichen Gemeinschaften, die Freikirchen und andere der kleinen Kirchen einen Hinweis für sich entdecken. Amen.