Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 3. Fastensonntag Lesejahr C 2022 (Lukas - Ukrainekrieg)

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20. März 2022 - St. Peter, Sinzig (Fastenpredigten "Wandlung")

1.Schreckliche Ereignisse

  • Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum ersten Mal im tiefsten erschüttert.“ Das Ereignis „verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken“. Manche werden ahnen, auf welches Ereignis sich dieses Zitat bezieht. Eine Welt, an Frieden und Ruhe gewöhnt, verfällt durch Ereignisse in einem nur scheinbar fernen Land in Schrecken. Die Menschen werden in ihrer Ruhe erschüttert – auch und gerade die jungen unter den Menschen in jenen friedensverwöhnten Ländern.
  • Lukas berichtet im Evangelium von Menschen, die voll Schrecken kommen. Ein Ereignis – vielleicht gerade eben – hat sie zutiefst erschüttert. Pilatus, der römische Statthalter in Jerusalem, ist wieder einmal mit äußerster Brutalität gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen.  Pilger aus Galiläa wurden im Tempel  in Jerusalem niedergemetzelt. Vielleicht meinte Pilatus, einen von ihm befürchteten Aufstand dieses störrischen Volkes im Keim ersticken zu müssen, bevor er zur Gefahr für den Palast werden könnte. Wenn sie ihre Macht in Gefahr wähnen, schrecken diktatorische Herrscher nicht zurück vor brutaler Gewalt.
  • Es sind solche Ereignisse, die uns Menschen erschüttern, durch die sich alles verändern kann, von jetzt auf gleich. Was eben noch als Gewissheit galt, ist jetzt schon radikal in Frage gestellt. Was gestern noch niemand für möglich gehalten hat, ist heute eingetroffen. Es sind solche Ereignisse, durch die die Welt sich schneller wandelt, als wir es uns je vorstellen konnten. Mit manchem Ereignis geschieht eine Wandlung – meist jedoch leider nicht zum Besseren. Warum?

2. Ferner Schrecken

  • Das Ereignis, von dem es eben in dem Zitat hieß, es „verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken“, war nicht die Eskalation des Krieges, mit dem das Militär der Russischen Föderation das Bruderland Ukraine seit Jahren überzieht. Das Zitat stammt vielmehr aus den Lebenserinnerungen von Johann Wolfgang von Goethe (in „Dichtung und Wahrheit“) und bezieht sich auf ein Ereignis aus seiner frühen Jugend: Das Erdbeben von Lissabon 1755, das die Stadt zerstörte, ein Drittel der Einwohner dahinraffte, die Küsten von Nordafrika bis Südengland durch einen Tsunami verwüstete. Noch im hohen Alter erinnert sich Goethe, dass dieser Schrecken sein eigenes Leben ebenso erschütterte, wie die Geisteshaltung der ganzen damaligen Welt.
  • Wie kann Gott das über uns bringen?‘, frug damals das sich „aufgeklärt“ dünkende Europa. Eine Frage, die beim gegenwärtigen Schrecken kaum zu hören ist, zu offensichtlich ist die Verantwortung des Menschen. Und viele, so scheint es, würden sogar nahezu ausschließlich die Verantwortung einem einzelnen Menschen zuschieben: Präsident Putin, vergraben in seinem Palast in Moskau. Doch das ist natürlich falsch. Es ist nicht nur ein einzelner Mann, der Verantwortung hat. Es sind die Führungsstrukturen des noch aus sowjetischer Zeit stammenden Geheimdienstes, die er zu ungeheurem Einfluss und Reichtum geführt hat, es ist das Militär, das von seiner seit zwei Jahrzehnten vorangetriebenen auf Krieg zielenden Rüstungspolitik profitiert, leider auch die ebenfalls aus sowjetischer Zeit mit fragwürdigen Figuren durchsetzte russisch-orthodoxe Kirchenleitung, die sich an dem Einfluss vollgesogen hat, den die neuen Machthaber ihr zugestanden haben, weil sie nützlich war. Es gibt – wie immer – auch die Mitläufer und all die, die sich betrügen lassen. Wir Deutschen kennen das. Aber es ist leichter, einen einzelnen zu dämonisieren, als das Risiko einzugehen, es könnte die Frage nach Verantwortung bei mir selbst ankommen.
    Aber sind diejenigen nicht auch irgendwo schuldig, die da überfallen wurden? Pilatus, um beim Evangelium zu bleiben, hat nicht irgendwelche Pilger niedermetzeln lassen, sondern nur Männer aus Galiläa. Jesus antwortet: „Meint ihr, dass diese Galiläer größere Sünder waren als alle anderen Galiläer, weil das mit ihnen geschehen ist?“ Offenbar ist der Schrecken über die Gewalt und das Unglück die Form, in der Menschen sich den Gedanken vom Leibe halten, es könne auch sie betreffen.
  • Deswegen reagiert Jesus mit aller Schärfe. Statt die Menschen zu beruhigen, die im Schrecken von dem Unglück der Galiläer berichten, setzt Jesus noch einen drauf. Er erinnert an ein Unglück das ganz normale Menschen aus Jerusalem unlängst getroffen hat: Beim Bau eines Turms an der Stadtmauer sind sie verunglückt. „Meint ihr, dass sie größere Schuld auf sich geladen hatten als alle anderen Einwohner von Jerusalem?“ Jesus belässt dem Ereignis seinen Schrecken. Er beruhigt nicht, er will Wandlung. Er will, dass der Schrecken die Frage auslöst: „Und ich?“
    (Es sei angemerkt, dass er dabei zu erwachsenen, gesunden Menschen spricht. Zur Begründung von schwarzer Pädagogik, die Kinderherzen verdunkelt oder mit einer Predigt, die alle Schrecken von der Kanzel herab über die Menschen ergießt, hat das nichts zu tun. Und natürlich muss man psychisch belasteten Menschen anders begegnen. Ich denke dabei auch an all die unter uns hier, die jetzt erst merken, wie tief eigene Erfahrungen von Krieg und Vertreibungen in ihnen sitzen.)

3. Geisteswandlung

  • Jesus reagiert auf eine bestimmte Weise mit einer Schreckensnachricht umzugehen: Er weist jene Form der Rationalisierung zurück, die nur auf andere schaut und mit Schuldzuweisungen reagiert oder mit geraunten Mutmaßungen – 'die waren ja selbst dran schuld!'  Dadurch sorgen wir immer nur dafür, dass die eigentlich relevante Frage ausbleibt: Was bedeutet das für mich?
    Im Lukasevangelium wird die Begebenheit ganz klar in einem Kontext platziert: Umkehr. Das deutsche Wort klingt etwas zu sehr nach fegen, kehren, saubermachen. Das Wort des Evangeliums heißt „metanoia“, die Wandlung des Geistes und des Herzens.
  • Es ist richtig, dass in Reaktion auf die Eskalation des Ukrainekrieges auch in Deutschland ganz neu über Sicherheits- und Wirtschaftspolitik diskutiert. Allerdings habe ich bislang noch nicht den Eindruck, dass es eine Vorstellung davon gibt, wie es danach weitergehen soll. Aufrüstung kann um der Abschreckung vor weiteren Eroberungskriegen willen richtig sein. Aber diese Schlussfolgerung ist doch nur oberflächlich. Sie ist noch nicht die Antwort auf die Frage, wie unsere politische Kultur und unser Zusammenleben aussehen müssen, wenn es solche Aggressionen gibt. Und der Verweis auf Aufrüstung taugt schon gar nicht für die Frage, was das Ganze für jeden von uns persönlich bedeutet – und für uns als christliche Kirche und Gemeinde.
  • Wandlung muss damit beginnen, dass ich versuche frei zu werden, um zu sehen: Worin muss ich mich wandeln? Was bei mir – und was bei uns – muss anders werden? Was wird in Frage gestellt? Und was ist in Vergessenheit geraten? Diese Freiheit zu erlangen braucht es eine Erneuerung des Glaubens. Nur wenn ich mein Vertrauen in Gott setze, statt in meine immer schon gepflegten Gewissheiten, habe ich die Freiheit zur Wandlung.
    Worin muss ich mich wandeln? Diese Frage können Sie mir nicht beantworten. Ich kann diese Frage nicht für Sie beantworten. Ich weiß aber – für Sie und für mich – dass wir einander brauchen, um den Mut zu finden, diese Frage überhaupt zuzulassen. Wir brauchen einander und wir brauchen den Glauben, den wir miteinander bekennen können, der aber letztlich ein Geschenk Gottes ist, seine Gnade.
    Worin muss ich mich wandeln? – Jesus würde sagen: Warte nicht, diese Frage zu stellen. Lass dich erschüttern durch das, was geschieht. Vertraue darauf, dass Gott es vermag: Die Geisteswandlung, die öffnet für seinen Weg des Friedens. Amen.