Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 27. Sonntag im Lesejahr C 2016 (Habakuk)

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2. Oktober 2016 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

Vielleicht ist Ed Snowden, von dem Oliver Stone in seinem gleichnamigen Film erzählt, tatsächlich der Patriot, als der er geschildert wird. Er entschloss sich mit 29 Jahren seine ganze bürgerliche Existenz zu riskieren und zum Whistleblower zu werden, der mit einer erdrückenden Fülle an Material aufdeckt, in welchem Ausmaß Geheimdienste gegen Recht und Gesetz verstoßen. Ist es Eitelkeit, dass Snowden 2013, als er sich in einem Hotelzimmer in Hong Kong mit Journalisten traf, von Anfang an von einer Dokumentarfilmerin begleiten ließ? Das Ergebnis kam unter dem Titel Citizenfour in die Kinos. Oder ist es glaubwürdig, dass der junge Computerexperte das als einen Weg gesehen hat, der Sache zu dienen, zu der er sich berufen wusste - gerade weil er durch jahrelanges Mittun mit schuldig geworden war?

1. Eitelkeit der Whistleblower

  • Vielleicht hilft das etwas merkwürdige Beispiel Jesu vom nutzlosen Knecht, um Gutes zu tun. Denn paradoxerweise ist es manchmal die Angst vor der eigenen Eitelkeit, die Menschen hindert, mutig das Wort zu ergreifen und Unrecht zu benennen.
  • Oft ist der erste Vorwurf an den Propheten, er spreche ja nur aus Eitelkeit. Gerade der echte Prophet steht in Gefahr, in diese Falle zu tappen. Er wird ohnehin von Selbstzweifeln geplagt, ob es wirklich ein lauteres Ansinnen ist, warum er die Stimme erhebt, oder ob es nicht Eitelkeit sei.
  • Ganz dasselbe bewegt den selbstkritischen Whistleblower. So nennt man Menschen, die interne Informationen aus abgaswertefälschenden Konzernen, aus korrupter Verwaltung, aus Geheimdiensten oder auch der Kirche an die Öffentlichkeit bringen, um einen Missstand oder einen Skandal aufzudecken.
    Hier kommt sogar noch ein weiterer Zweifel dazu. Heute verkauft sich eine große Story leichter, wenn sie personalisiert ist. Was aber, wenn es nicht um die Person, sondern um die Sache gehen soll, um die ungerechten Strukturen, den Skandal?
    Gerade den echten Propheten kann das Wort Jesu vor diesen Zweifeln schützen. Er soll sich sagen: Ich bin ja nur ein unnützer Diener und habe nur meine Schuldigkeit getan.

2. Wort der Propheten

  • Das Thema geht uns doppelt an. Erstens sind es die Propheten, die helfen, die Ungerechtigkeit dort aufzudecken, wo sie von mächtigen Interessen verdeckt wird. Ohne den Mut der Propheten hat die Ungerechtigkeit ein leichtes Spiel.
    Und zweitens sind wir alle als Christen kraft der Taufe ermächtigt und berufen, Propheten zu sein. Dazu werden wir gesalbt, in Christus Kind Gottes, Priester und eben auch Prophet zu sein. Ob es dabei um die Aufdeckung von weltweiten kriminellen Aktivitäten irgendwelcher Geheimdienste geht oder darum, die Gewalt beim Namen zu nennen, die ein Mitglied der eigenen Familie, der Trainer beim Sport oder der Pfarrer in der Kirche ausübt - das ist egal. Immer braucht es den prophetischen Dienst.
  • Dabei werden nicht nur die vom Propheten kritisierten Kräfte, sondern auch er selbst, nach der Vollmacht und dem Nutzen dieses Dienstes fragen - oder danach, ob es sich nicht um den Dienst an der Gerechtigkeit handelt, oder stattdessen nur um Eitelkeit eines Menschen, der sich selbst in den Mittelpunkt rücken will.
  • Die Lesung stellt uns den Propheten Habakuk vor, der Zeuge von himmelschreiendem Unrecht von Seiten des eigenen Königs geworden ist. Und Habakuk schreit zum Himmel. Er macht dies nicht im stillen Kämmerlein. Damit wird es zwar angefangen haben, dass er im Gebet mit seinen Erfahrungen vor Gott gerungen hat, immer und immer wieder. Er wird Gott gefragt haben, was ihn das alles angehe, ob er nicht einen anderen beauftragen könne, ob er selbst nicht auch selbst schuldig geworden sei, und was der Fragen noch ist, die einen Menschen in dieser Situation umtreiben mögen. Aber dann nimmt er die Berufung an und schreit das Unrecht laut raus. Und er tut dies als Ruf zu Gott, denn Gottes Recht wird verletzt, wo den Armen Unrecht geschieht. Habakuk macht damit deutlich, dass es nicht um ihn selbst geht und gehen soll. Vor dem Angesicht Gottes und der Öffentlichkeit des Volkes muss das Unrecht benannt werden.

3. Mitschuldig und dennoch berufen

  • Oft sind es die Insider, die allein das Wissen haben, um Unrecht aufzudecken. Deswegen sind sie so verhasst. Manche Rechtssysteme schützen Whistleblower, wenn durch sie krimineller Machtmissbrauch oder Korruption aufgedeckt wird. Andere Staaten verfolgen sie gnadenlos - und können wie in den USA die patriotische Stimmung auf ihrer Seite haben. Und dennoch sind die wahren Patrioten, wie auch die Propheten, diejenigen, die das Unrecht aufdecken. Habakuk ist deswegen gerade wegen seines Einspruchs gegen den regierenden König ein Patriot - und die Hofschranzen, die den Mund halten und den Propheten verfolgen, sind keine Patrioten, sondern haben letztlich nur den eigenen Profit durch das Unrechtssystem vor Augen.
    [Das gilt noch bis zu dem leider häufigen Fall der Mutter die nicht sehen kann und nicht sieht und die schweigt, während der Vater die Kinder misshandelt. Da ist einerseits die lähmende Angst vor der Macht des Täters. Da ist aber auch die Angst, es sich einzugestehen, dass diese Beziehung gescheitert ist. Und die Scham, schon so lange geschwiegen zu haben].
  • Wenn es stimmt, dass der Insider zum Propheten berufen ist, dann bedeutet das: Einer, der selbst schuldig geworden ist. Wenn da kein Wissen um die Barmherzigkeit Gottes ist, dann muss es sehr schwer sein, den Anfeindungen standzuhalten, die da rufen: Du hast doch jahrelang mitgemacht und geschwiegen. Es ist aber gerade die Barmherzigkeit Gottes, die hilft, in oft jahrelangen, mühsamen Prozessen mit vielen Zweifeln und Rückschlägen (vielleicht sogar Depressionen) das Unrecht auch dort zu erkennen, wo mein eigenes Leben und meine Selbstsicherheit damit verwoben sind. Bei Habakuk ahne ich viel von diesem Ringen mit dem Gott, der scheinbar nicht Anteil nimmt - und doch angerufen wird: "Du, unser Fels!". Da spricht ein Insider, den Gott zum Propheten berufen hat.
  • Weil dieser, den Gott zum Propheten berufen hat, selbst eine Geschichte im Inneren des Systems hat, hat auch er Anteil an der Schuld. Daher ist es ganz wichtig, dass der Prophet zwar das Unrecht klar benennt und die Fakten auf den Tisch legt. Aber der Prophet Habakuk macht zugleich deutlich, dass das letzte Urteil, so klar der Fall auch liegt, Gott vorbehalten ist. In dem zweiten Teil der Lesung, in der Antwort Gottes, wird das Wort des Propheten wie auf Stein-Tafeln eingraviert und somit davor bewahrt, verschleiert und vergessen zu werden. Aber zugleich weiß Habakuk, dass das Gericht selbst und die rechte Zeit dafür Gott überlassen bleibt. Er vertraut der Kraft der Informationen, die er vorlegt. Und er vertraut Gott, vor den er seine Sache gebracht hat. Deswegen wird Habakuk zu Recht ein Prophet Gottes genannt. Amen.