Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 26. Sonntag im Lesejahr B 2021 (Markus)

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26. September 2021 - St. Peter, Sinzig/Rhein

 

1. Das Bild vom Mühlstein

  • Auf den Petersplatz in Rom stand ein großer Mühlstein. Dazu das Zitat aus dem heutigen Evangelium: „Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt (σκανδαλίζειν/skandalizein – zu Fall bringen!), für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde.“. Papst Franziskus kam dazu und hat mit denen gesprochen, die diesen großen Stein aus Deutschland gebracht hatten: Betroffene von Gewalt und Missbrauch und ihre Unterstützer. Kein Zweifel, dass ihn das persönlich berührt hat – aber es ist von da ein langer Weg bis zu dem Punkt, wo wir verstehen, welche Konsequenzen eine solche Begegnung hat, gerade dann, wenn man als Papst oder Bischof strukturelle und theologische Verantwortung zugleich hat.
    Die mangelnde Entschlossenheit, die er gegenüber den Berichten aus Köln und den Rücktrittsgesuch aus Hamburg gezeigt hat, zeigt, wie weit der Weg noch ist. Man hat offenbar nicht verstanden, welche Bedeutung für die von uns, die Gewalt erlitten haben, und all die, deren Vertrauen in die kirchliche Gemeinschaft als Ort des Glaubens darüber zu Fall gebracht worden ist, die Benennung und Übernahme von Verantwortung ist. Ich kann das auch aus meiner eigenen Ordensgemeinschaft berichten, wo es zwar einzelne, auch profiliert gegen Missbrauch Engagierte gibt, aber auch enorme Beharrungskräfte, die den Verantwortlichen oft wenig und der breiten Basis vielfach gar nicht bewusst ist.
  • Der Weg zur Erneuerung kann für Christen nur über das Evangelium gehen – der Botschaft, dass Gott seinen Gesalbten, dem Christus, der am Kreuz gestorben ist, die Herrschaft übergeben hat. Das ist Gott: an der Seite der Geschundenen. In dem heutigen Abschnitt des Evangeliums geht es nun um Vertrauen in diesen Christus, Gottes Gesalbten. Was macht das Vertrauen in Gottes Gegenwart möglich, was zerstört dieses Vertrauen? Im zweiten Teil stehen die radikalen Bilder, dass man sich (nicht anderen!) eher die Hand abhacken soll, als über sie die Grundlage des Vertrauens zu verlieren. Natürlich ist das bildlich gemeint: Es sind oft ganz andere Dinge, die uns hindern zu vertrauen.
  • Das Bild vom Mühlstein aber steht im ersten Teil. Dort geht es jedoch nicht um den Umgang mit Kindern. Dennoch – denke ich – hat er für uns Christen eine spannende Botschaft bereit, nur eben nicht nur den spontane Zorn, dass die im Meer versenkt gehören, die Kinder missbrauchen. Weil: Vom Zusammenhang her ist völlig klar, dass Jesus an dieser Stelle von den Christen insgesamt als den Kleinen spricht und von Außenstehenden, über deren Verhalten ihr Vertrauen zerstört wird.

2. Einen dieser Kleinen zu Fall bringen

  • Jesus hatte kurz zuvor versucht, seine Jünger in die Logik des Gottesreiches einzuführen: Die Macht offenbart sich in der Ohnmacht, der Christus wird seinen Thron zur Rechten des Vaters nur über das Kreuz besteigen. Doch die Herren Jünger hören nicht zu und verstehen nicht, weil sie mit Fragen der Konkurrenz, wer unter ihnen der Größte sei, beschäftigt sind. Und dann kommen sie und wollen Außenstehende daran hindern, im Namen Jesu Gutes zu tun.
    Ich will nicht so tun, als könnte ich die Jünger, diese kleine Schar um Jesus, nicht verstehen. Da „zapfen“ Ungläubige, die nicht zu ihnen gehören, die Macht des Christus an, ohne dass deutlich wird, woher es kommt. Wer hat’s erfunden? Wir! Jesus aber weist sie zurecht. „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns.“ Und er setzt noch einen drauf und erinnert an die Unterstützung durch Nichtchristen: Auch wenn sie Euch nur einen Becher Wasser geben!
  • Dann aber stellt er sich doch schützend vor seine überschaubare Schar der Jünger, die er hier wie an anderer Stelle als „die Kleinen“ sieht, die schutzlos sind und ohne Einfluss: „Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde.“
  • Der ganze Zusammenhang macht also klar: Jesus beruft seine Kirche nicht von Erfolg zu Erfolg. Nur wenn sie loslassen kann, kann sie gewinnen. Auch wer nicht selbst das Kreuz tragen muss – die Logik des Kreuzes ist für alle untrennbar mit Christsein verbunden. Wir müssen eher unser Auge oder unsere Hand drangeben, als unser Vertrauen in ihn aufzugeben. Ja, wir müssen auch damit zufrieden sein, dass andere den Namen Jesu und seine Kraft in Anspruch nehmen – Konkurrenzdenken verträgt sich nie mit Glauben an Christus.
    Aber, auch das steht da: Wo andere mich in meinem Vertrauen in Christus zu Fall bringen will, steht Gott machtvoll mir zur Seite. Das Vertrauen braucht Schutz. Wer einem der Kleinen, die zu Christus gehören, zu Fall bringt, der hat kein Heil von Gott zu erwarten.

3. Vertrauen schützen

  • Das Wort vom Mühlstein stand ursprünglich ziemlich sicher nicht im Kontext von Kindesmissbrauch. Aber das heißt nicht, dass es dazu nichts zu sagen hätte. Denn uns als Kirche der Getauften trifft dieses Bibelwort nicht (noch nicht wieder?!) als "die Kleinen". Die Gemeinden mögen schwächeln, sie gehören aber immer noch zu einer einflussreichen Größe. Und daher dürfen wir das Wort Jesu nicht hören als „wir und die da draußen“, sondern müssen uns der Tatsache stellen, dass der Riss zwischen Glauben und Unglauben, Evangelium und Welt, Kreuz und Machtstreben immer auch mitten durch die Kirche und mitten durch unser Herz geht.
  • „Wer einen von diesen Kleinen zu Fall bringt.“ Das geschieht in der Kirche, weil es in der Kirche Macht und Machtgefälle gibt. Macht geht von Amtsinhabern aus und denen, die über wirtschaftliche Ressourcen bestimmen. Macht geht aber auch von Meinungsmachern aus, die es in unseren Gemeinden schon lange gab, bevor das Wort „Influencer“ erfunden wurde.
    Vor einigen Wochen war ich in einer Gemeinde in der Region zu Gast, um über einen Jesuiten zu sprechen, der dort vor über 70 Jahren glänzend gewirkt und am Ende doch wieder Gewalt  gegen Kinder geübt hatte. Viele waren dankbar für das Gespräch, aber ich musste auch altgediente Gemeindemitglieder hören, die mir sagten, ich solle verschwinden, wenn ich nur „Schmutz auf unseren Pater werfen“ wolle. Und ich musste hören, dass in dieser Gemeinde schon 1945 nicht nur der Pfarrer nichts von dem Missbrauch hören wollte, sondern auch die Gemeinde die Familie gemieden hat, die ihn melden wollte – heute nennen wir das „Mobbing“.
  • Was hier geschieht ist komplex. Es braucht Jahre, sich damit auseinanderzusetzen, weil die Antworten und Fragen das eigene Leben erschüttern können. Aber das nehme ich doch aus dem heutigen Evangelium mit: Die Perspektive Jesu ist die Frage nach dem Vertrauen und dem Glauben derer, die keine Macht haben.
    Das sind die Jungen und jungen Erwachsenen ohne Familie in der Kirche, die nicht vorkommen, weil die Alten ihre Lieder in der Kirche, ihre Kaffeetassen im Gemeindehaus und ihre Plätze in den Gremien als machtvolle Mehrheit verteidigen. Da sind viele, die anders sind, und die still wieder verschwinden, weil ihre Orientierung, ihre Kultur, ihre Sexualität, ihr Individualität, ihr Zorn oder ihre Verletzlichkeit ihnen auch hinter den Säulen keinen Platz ließen.
  • Wir sollten mehr für uns beten, die andere schleichend aus der Kirche vertrieben haben, als für die, die angeblich wegen „Verlust“ ihres Glaubens gegangen sind. –
    Denn oft sind darunter auch die Kleinen, deren Leben ganz konkret zerstört wurde, weil sie von Mächtigeren gewaltsam benutzt wurden, die keinesfalls draußen, die anderen, die böse Welt etc. sind, sondern hoch angesehene Männer in unserer Mitte. Diese müssen zu Fall gebracht werden, ebenso wie die Gruppen und Strukturen, die sie stützen, weil nur dann Vertrauen bei uns allen wieder wachsen kann: Vertrauen in Christus und sein Kreuz. Amen.