Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Adventspredigt 3: "Seid gewiss ich bin bei Euch ..." - Kreuz (ergänzte Predigt Fastenzeit)

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10. März 1996 - St. Wolfgang, Dieburg

Hinweis: Die zwei Adventspredigten 1995 im Mainzer Dom standen unter dem Generalthema "Seid gewiss ich bin bei euch...", dem Wort vom Ende des Matthäus-Evangeliums. Die beiden Prediten wurden als Fastenpredigten in Dieburg 1996 um eine dritte erweitert. Das Thema wurde also in drei Schritten entfaltet:
1. Evangelisation. Die gute Botschaft der Befreiung
2. Mission. Mit Christus neue Wege gehen
3. Kreuz. Auf die Auferstehung mit dem Gekreuzigten getauft

0. Seid gewiss, ich bin bei Euch

  • Die drei Fastenpredigten wollen die Glaubensgewissheit ausdeuten, die am Ende des Matthäus-Evangeliums steht. Christus, der predigende und heilende, der gekreuzigte und auferstandene, ist nicht eine zufällige oder programmatische, nicht eine vorübergehende und nur durch die Gnade der Historiographen fortlebende Gestalt. Christus Jesus ist die bleibende Gegenwart Gottes für uns, weil durch das einmalige Geschehen für die ganze verbleibende Zeitspanne der Welt, unsere Zeitspanne, die Zeit der Kirche, Christus gegenwärtig bleibt: Mit seinem heilend-richtenden Evangelium, indem er Menschen ruft und in seiner Mission sendet. Aber auch mit seinem Kreuz.

Predigttext

1. Auf das Kreuz Jesu getauft

  • Es kann eigentlich nur daran liegen, dass wir in unserem Kopf sorgfältig trennen, was nach dem Text der Heiligen Schrift klar zusammengehört, dass wir uns an dieser Kombination nicht den Glauben zerbrechen: Taufe und Kreuz.
  • Wir sind auf das Leben, das neue Leben in Christus getauft. Das ist ein Satz, der mit unserem Bild der Taufe zusammenpasst: der friedlichen Veranstaltung, bei der ein Säugling, von seiner Familie an den Taufstein gebracht, durch das Wasser in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen wird. Paulus aber stört das Bild. Wir sind auf den Tod Christi getauft. Der Tod Jesu ist aber der unendlich qualvolle, erniedrigende Tod am Kreuz, ein Foltertod.
  • Wir müssen uns die Bilder erst bereitlegen, um im Bild des Kreuzes das zu sehen, was darin gemeint ist. Wir müssen uns dessen erinnern, was wir erlebt und erlitten, vielleicht getan und zugefügt haben. Wir müssen uns gegenwärtig setzen, was uns vorgesetzt und vermittelt wird, über den Bildschirm und die Zeitung. Wir müssen das hervorholen, was wir wissen oder ahnen, aber vorsichtshalber im Halbbewussten verstecken: die Armut und das Elend auf der Straße und hinter den Fassaden, in den Altersheimen und dort, wohin wir die Menschen zu sterben abschieben. Wir müssen den Bogen spannen zu jener Welt, die wir die Dritte nennen, um sie uns, der Ersten, weit weiter vom Hals zu halten, als unsere Verstricktheit es eigentlich zulässt. Wir müssen uns Zeit nehmen, den sorgsam gewebten Schleier von unserer Seele zu nehmen, um in denn Abgrund in uns selbst zu schauen, der es vielleicht nur dem Mangel an Gelegenheit verdankt, dass er nicht Verderben stiftet.
  • Wenn wir diese Bilder aufsteigen lassen, dann sehen wir das Kreuz. Und dieses Bild vom Kreuz müssen wir gegen das vom Täufling halten und uns dann von Paulus sagen lassen, dass wir auf das Kreuz Christi, seinen Tod getauft sind.
  • Manche halten das nicht aus. Bischöfin Jepsen aus Hamburg will den blutenden Corpus durch das Bild tanzender Kinder ersetzen (FAZ vom 17.1.; Seite N5). Dieses Bild verdrängt das Kreuz, fügt sich nahtlos zur Idylle der Tauffeier: Ein pädagogisch beruhigtes Christentum.
  • Der Ehrlichkeit halber sollte das aber nicht mehr Christentum genannt werden, weil es mit den Wurzeln desselben gebrochen hat. Wenn früher die katholische Kirche dem christlichen Volk die Lektüre der Bibel vorenthalten hat, dann sind wir heute längst wieder an dem Punkt angelangt. Nicht nur Bischöfin Jepsen predigt erfolgreich für eine nach Geschmack gestylte Bibellektüre.
  • Die tiefste Wahrheit über das Kreuz, auf das hin wir getauft sind, findet sich nicht in Worten oder Schriften, sondern in der intuitiven Erfassung und der gnadenhaften Stärkung, die gläubige Menschen erfahren, die ihr Kreuz tragen. Diese Tiefe und Unmittelbarkeit kann nur im Glauben gelebt, sie kann sehr wohl bezeugt aber kaum in einer Predigt erfasst werden.
  • Lassen Sie uns daher an einem ganz anderen Punkt neu ansetzen, um Taufe und Kreuz zu verstehen.

2. Waschzwang (der Gedanke ist in einer anderen Predigt ausführlicher aufgegriffen)

  • Krankheiten erkennen wir an ihren Symptomen. Ein Temparaturanstieg, Schwellungen, Hautveränderungen, Schmerzen: all das sind Symptome, die Fachkundige zu deuten wissen. Symptome sind nicht die Krankheit selbst, sondern zeigen sie an - häufig an einer ganz anderen Stelle.
  • Ist es bei "körperlichen" Krankheiten häufig schon schwer, eine Krankheit an ihren Symptomen zu erkennen, so gilt das für Krankheiten des Gemüts noch viel mehr. Vor allem gilt eines bei psychischen Erkrankungen mehr als bei (sogenannten) körperlichen Erkrankungen: Die Ursache für die Krankheit ist vor allem dann nie zu begreifen, wenn ich die Krankheit als individuelles Problem des Kranken behandle und nicht sehe, dass an dem Kranken eine Krankheit in ihren Symptomen sichtbar wird, an der auch die Umgebung des Kranken leidet, die auch die Umgebung des Kranken mit verursacht.
  • Wir haben gelernt, Krankheit als das private Problem von Kranken zu sehen und ihn zum Arzt zu schicken. Dass es immer mehr Allergien gibt, dass es Seuchen gibt, dass es Krankheiten gibt, die ein anderer ausbaden muss als der, der sie "verschuldet" hat, ist uns mehr bekant denn bewusst.
  • Waschzwang ist eine psychische Erkrankung, die man an einem nicht enden wollenden Bedürfnis sich zu waschen erkennt. Der Kranke kann nicht aufhören, sich immer und immer wieder, sorgfältig, ja rituell, zu waschen, bis die Haut wundgescheuert ist.
  • Waschzwang ist die falsche Antwort der Psyche auf ein richtiges Problem; eine Erfahrung kommt hier in Symptomen ans Licht. Die erfahrene Wirklichkeit ist das eine, die Symptome das andere. Gerade deswegen leidet unter diesen Symptomen niemand mehr als der Kranke selbst, der ganz genau weiß und merkt, wie sinnlos sein Tun ist - und der es dennoch tun muss, zwanghaft.
  • Diese seltene Krankheit ist ein Symptom für ein Defizit im Leben und in der Umgebung des Kranken. Häufig liegen die entsprechenden Erfahrungen schon lange zurück. Manchmal ist ganz konkret die Erfahrung von Verbrechen, die von anderen an einem selbst verübt werden, Auslöser für die Krankheit. So gibt es den Fall von Frauen, die vergewaltigt wurden, und deren Psyche dieses Verbrechen eines Mannes am Körper damit beantwortet, dass ein tief sitzender Waschzwang zum Ausbruch kommt. Dies ist der brutalste Ausdruck dafür, dass in einer Krankheit Defizite, Schuld, ja Verbrechen anderer zum Ausdruck kommen.

3. Unsere Unfähigkeit zur Reinigung

  • Dass es in unserer Mitte Waschzwang gibt macht am Leib einiger weniger Menschen deutlich, woran es uns allen mangelt. Dort wo das Bedürfnis nach Reinigung kein Maß mehr findet, unheilvoller Zwang dem Menschen die Hände führt, dort kommt zum Ausdruck, dass wir alle zwar gelernt haben, an der Oberfläche, an der Außenhaut hygienisch zu sein; die Hygiene der Seele aber haben wir verlernt, weil wir uns keinen Begriff mehr machen von der Schuld, mit der wir uns und andere verunreinigen.
  • Dort wo Menschen zusammenleben, in Familien und Partnerschaften, dort erfahren wir ganz unmittelbar, dass das Versagen des einen die anderen betrifft und dass die Kulturlosigkeit der anderen das Leben des einen zerstört. Durch Egoismus und Kurzsichtigkeit lassen wir einander nicht atmen.
  • Ich glaube nicht, dass das etwas Neues ist, das vergangene Epochen nicht kannten. Ich glaube aber wohl, dass wir heute in besonderem Maße daran leiden, dass wir mit unserem Versagen nur noch sprachlos umgehen können. Wir gehen auseinander, lassen Beziehungen an unserem Versagen zerbrechen, sprechen uns bestenfalls noch in der Intimität einer Behandlung beim Psychologen aus.
  • Dabei haben wir in der Taufe, mit der wir alle getauft wurden, doch ein ganz anderes Fundament, auf dem wir bauen könnten. Wir haben ein ganz anderes Talent, mit dem wir wuchern können. Wir haben schon längst ein Geschenk, nach dem wir uns - blind - immer noch ausstrecken. In der Taufe sind wir, zumeist als wehrlos in die Welt schreiende Babys, von Gott durch die Kirche in eine Gemeinschaft gestellt, in der wir mit Schuld, Egoismus, Versagen umgehen können: Weil wir nicht auf uns selbst gestellt sind, weil wir mit unserem kleinen Licht nicht das ganze Dunkel des Universums ausleuchten müssen, gibt es einen Weg, mit der wir uns dem Versagen stellen können, bevor es unsere Beziehungen unter sich begräbt.
  • Die Kirche kennt beides: Das intime Bekennen der Schuld in der Beichte und die gemeinsame, öffentliche Bitte um Vergebung am Beginn jeder Heiligen Messe oder in den Bußandachten vor Weihnachten und Ostern. Diese rituellen Formen sind Erinnerungen, Verlebendigungen unserer Taufe.
  • Wir brauchen beides: Wir brauchen die rituelle, immer wieder kehrende Erneuerung der Taufgnade. Der Ritus im Schuldbekenntnis hält wach und lebendig, dass wir alle zusammen nicht aus uns heraus heilig sind, sondern von Gott berufen sind, zu seinem Heiligen Volk zu gehören. Wir dürfen einander nicht die Achtung verweigern, die Gott uns gewährt. Wir brauchen aber auch die intime, individuelle Reinigung im Sakrament der Buße, im Beichtstuhl oder Beichtgespräch, bevor unsere Zukunft an unserer Vergangenheit in die Brüche geht.

4. Die Taufe des Gottesknechts

  • Jesus geht den Weg zum Jordan, um sich der Taufe des Johannes zu unterziehen. Eben erst hatte Johannes die Schriftgelehrten abblitzen lassen, die sich taufen lassen wollten, ohne von ihrem selbstgefälligen Leben abzurücken. Jetzt will Johannes Jesus von der Taufe abhalten, weil er weiß und spürt und merkt, dass niemand weniger ein solches Bad der Reinigung braucht als Jesus, der Christus.
  • Jesus will es trotzdem. Er will es aus dem selben Motiv, aus dem er beim Letzten Abendmahl, am Ende seines Wirkens, als Diener seinen Jüngern die Füße wäscht, so sehr sich Petrus auch sträubt. Jesus vollzieht das Bad der Reinigung, in der Taufe am Jordan, in der Fußwaschung im Abendmahlssaal, damit wir Gemeinschaft mit ihm haben und miteinander.
  • Das Kreuz von Golgotha hat nichts mit Masochismus zu tun. Es hat aber viel zu tun damit, dass Gott sich nicht mit seiner Heiligkeit zufrieden sein lässt, sondern sich mit uns abgibt.
  • Wir haben uns daran gewöhnt, dass einige unsere Krankheiten ausbaden müssen, dass andere an unserer Zivilisation zerbrechen, dass wir auf Kosten anderer leben.
  • Gott geht den umgekehrten Weg: Er lässt sich infizieren von dem, was uns gefährdet, um den Antikörper zu entwickeln, der uns rettet.

5. Auf die Auferstehung mit dem Gekreuzigten getauft

  • Es ist nicht nur riskant, sich auf das Prinzip einzulassen, nach dem Christus gekreuzigt wurde. Es ist vor der Hand auch unklug: Denn das Kreuz ist die notwendige Konsequenz daraus, dass Jesus sich - von der umfunktionierten Taufe bei Johannes im Jordan an - gegen eine Gesetzmäßigkeit stellt, die das Leben der Menschen bestimmt.
  • Die Gesetzmäßigkeit heißt: Jeder ist sich selbst der Nächste. Oder vornehmer ausgedrückt: Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Die letztere Version ist so richtig und selbstverständlich, dass wir damit großzügig überdecken können, dass wir nicht nur für uns selbst verantwortlich sind, sondern auch für das, was wir anderen antun, das Kreuz, das wir anderen aufladen: weil sich jeder selbst der nächste ist.
  • Was wir im Glauben bekennen ist, dass Gott in Jesus Christus die Welt wieder vom Kopf auf die Füße gestellt hat, dass wir einen Bund angeboten bekommen, der uns ermächtigt, nicht uns selbst, sondern einander der Nächste zu sein.
  • Die Fastenzeit ist uns aufgegeben als Zeit der Einübung in die christliche Existenz. Einüben in das Denken, die Gesinnung Gottes, die sich in Jesus Christus ausgeprägt und gezeigt hat. Einüben in die Existenz derer, die das Kreuz aushalten weil es nicht das letzte ist. Macht korrumpiert. Deswegen bekennen wir das Kreuz. Ohnmacht korrumpiert genauso, weil es den Menschen ebenso blind macht, der nicht sieht, dass Gottes Macht, die einzige ist die zählt.
  • Viele Krankheiten und Schmerzen laden wir einander auf. Das Kreuz ist das Zeichen, unter dem wir den Schmerz selbst aushalten, Veränderung spüren und wagen, weil der Auferstandene die Male des Kreuzes an seinem Leine trägt, wenn er uns zuruft: Seid gewiss, ich bin bei Euch.