Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 19. Sonntag im Lesejahr C 2010 (Hebräerbrief)

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15. August 2010 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Auf Nummer Sicher gehen

  • Wer auf Nummer Sicher gehen will, bleibt ein oberflächlicher Mensch. Die These klingt sehr pauschal. Ich denke aber, sie trifft etwas Richtiges. Denn was ist für uns Menschen wirklich sicher in dem Sinne, dass wir es messen, zählen, wiegen, testen und betasten können? Das ist immer nur die Oberfläche der Dinge. Wer sich an das Handfeste hält, geht auf Nummer Sicher. Aber er wird damit immer nur an der Oberfläche bleiben.
  • Uns wird regelmäßig das Gegenteil erzählt. Immer wieder gibt es Naturwissenschaftler, die in großen Thesen vorgeben, uns Welt- und Menschenrätsel entschlüsseln zu können. Dabei nehmen sie die Präzision der Naturwissenschaften für sich in Anspruch. In reich bebilderten Artikeln im Focus und anderen Gazetten wird dann erklärt, der Mensch, das Denken, die Liebe, die Welt sei "nichts anderes als...." (1). Dabei gibt die exakte Naturwissenschaft genau das nicht her. Im Messen, Zählen und Wiegen, in den ausgeklügeltesten naturwissenschaftlichen Methoden, finde ich darauf keine Antwort; vielmehr wird von diesen Theorien die Oberfläche für das Ganze genommen und großzügig interpretiert. Zum Glück ist das nur die Ausnahme unter den Naturforschern; aber diese vermarkten ihre "Erkenntnisse" dann besonders laut.
  • Wer versucht, im eigenen Leben auf Nummer Sicher zu gehen, wird schnell an seine Grenzen stoßen, wenn nicht gar scheitern. Denn im wirklichen Leben lässt sich nicht alles objektiv und sicher bestimmen. Immer dann, wenn Beziehungen in's Spiel kommen, braucht es mehr als nur oberflächliche Fakten.

2. Dinge, die man nicht sieht

  • Es gibt sie, die "Dinge, die man nicht sieht". Zum Beispiel Liebe. Niemand kann Liebe sehen. Wir nehmen nur die Oberfläche wahr: Gesten, Worte, Handlungen. Die Liebe selbst sieht man nicht, auch nicht in bildgebenden Verfahren der Neurophysiologie, die nur körperliche Ausdrücke momentaner Emotionen wie Lust und Erregung beobachten kann. Aber das ist noch keine Liebe.
  • Wichtig wird es für uns dann, wenn wir selbst mit in's Spiel kommen - und andere. Dann kann, was bisher belanglose Oberfläche war, Bedeutung erhalten. Alle Biologie kann nicht erklären, was die Blume einem einsamen Menschen bedeutet, dem sie in Zuneigung geschenkt wird. Keine Tatsachenbeschreibung kann ein Bild oder Erinnerungsstück erfassen, das auf einen Wendepunkt meines Lebens verweist. Die Wissenschaft kann uns Staunen lehren; die Fähigkeit zu staunen und uns für etwas zu begeistern müssen wir selbst mitbringen.
  • Der Hebräerbrief will keine allgemeine Definition dessen geben, was Glauben heißt. Aber er gibt Christen in einer bestimmten Situation eine entscheidende Hilfe. In Zeiten der Bedrängnis oder Verfolgung schreibt der Verfasser dieses Briefes: "Glaube ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht." Wir können uns eine frühchristliche Gemeinde vorstellen, in der viele nicht mehr wissen, ob sie von Gott noch eine Zukunft für sich erhoffen können. Was sie erfahren, ist viel Negatives, oft sogar gerade wegen ihres Glaubens. Ihnen gelten diese Sätze: Was ihr seht ist das eine; es ist aber nur die Oberfläche. Achtet aber auf Eure eigene Erfahrung und auf die Erfahrung vieler vor Euch. Dann werdet ihr etwas finden, das das oberflächliche Auge nicht sieht. Und doch könnt Ihr mit gutem Grund darauf bauen.

3. Die Zukunft von ferne grüßen

  • Und so erzählt der Hebräerbrief von vielen Menschen, die geglaubt haben; der heute vorgelesene Abschnitt greift den wichtigsten Zeugen des Glaubens heraus: Abraham. Er ist der Urvater derer, die sich im Vertrauen auf das Wort Gottes auf den Weg gemacht haben.
  • Wer aufbricht, hat die Zukunft noch nicht in der Hand. Auch wenn alle Bedingungen für zukünftiges Glück in der Gegenwart gegeben wären, kann niemand die Zukunft sehen. Wir können uns nur auf den Weg machen.
    Das besondere des Glaubenden ist, dass seine Heimat nicht in der Vergangenheit ist und nicht in der Gegenwart, sondern in der Zukunft, in die er im Vertrauen auf Gottes Wort aufbricht. "Hätten sie an die Heimat gedacht, aus der sie weggezogen waren, so wäre ihnen Zeit geblieben zurückzukehren; nun aber streben sie nach einer besseren Heimat, nämlich der himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, er schämt sich nicht, ihr Gott genannt zu werden; denn er hat für sie eine Stadt vorbereitet." Der Aufbruch geschieht also nicht aus irgendwelchen Berechnungen heraus, sondern aus dem Vertrauen, dass Gott es gut mit ihm meint. Die "himmlische Heimat" ist nämlich auch, aber nicht nur die Heimat bei Gott in der Ewigkeit jenseits dieses Lebens. Himmlisch wird es vielmehr überall dort, wo etwas von der Gegenwart Gottes unter uns erfahrbar wird. Und Gott, wie es dort heißt "schämt sich nicht" dieses Abraham, der unterwegs ist zu seinem Gott. Gott braucht nicht Menschen, für die sich der Glaube in festen Riten und Formeln erschöpft. Vielmehr sind alle Riten und Formeln des Glaubens nur Wegmarken - hilfreiche Wegmarken, hoffentlich - auf dem Weg der Begegnung.
  • Die Redenwendung "auf Nummer Sicher gehen" kommt eigentlich von "auf Nummer Sicher sitzen". Die "Nummer Sicher" der Redewendung bezieht sich nämlich auf die nummerierte Gefängniszelle. Wer auf Nummer sicher gehen will, wird nie aufbrechen und nie das Wagnis der Liebe und der Hoffnung unternehmen. Gott aber ermutigt uns zu vertrauen und uns auf den Weg zu machen. Eine "Wolke von Zeugen" führt uns auf den Weg und Gott selbst will mit uns sein, Schritt für Schritt. Amen.

 


Anmerkung

 

1. "der mensch nichts anderes als" ergibt bei Google über 300.000 Treffer!