Predigt zum 16. Sonntag im Lesejahr B 2012 (Jeremia)
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22. Juli 2012 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg
1. Ein biblisches Bild
- "Schafe, die keinen Hirten haben". Es fällt schwer, dafür ein anderes Bild zu finden, das besser in
unsere Zeit passt. Man könnte sagen: Wie Autofahrer, die weder GPS noch Landkarte haben und auch
keine Tankstelle. Das dürfte vielen gegenüber dem Bild von den Schafen und den Hirten unromantisch
vorkommen, aber romantisch war auch zur Zeit Jesu das biblische Bild nicht. Bei Schafen ohne Hirten
drohte die Gefahr, dass die Schafe keine Weideplätze und Wasserstellen finden. Sie waren in ihrer
Existenz bedroht.
- Dennoch ist es schief, das Bild vom Hirten durch GPS und Tankstellen zu ersetzen, denn der Bibel
kommt es darauf an, dass im Hirten jemand Verantwortung übertragen bekommt. Man müsste also
zumindest den Tankwart und die GPS-Ingenieure benennen. Aber damit wird es etwas weit hergeholt.
- Das Markusevangelium hat mit dem Vergleich, dass die "vielen Menschen" wie Schafe seien, "die
keinen Hirten haben" ein Bild aus dem Alten Testament in der Bibel übernommen, das dort mehrfach
in einer sehr präzisen Bedeutung verwendet wird.
2. Von den Königen dieser Zeit
- Ein Beispiel haben wir in der Ersten Lesung aus dem Buch Jeremia gehört. Wie andere Propheten auch,
geht Jeremia mit den Verantwortungsträgern in's Gericht, die "zugrunde richten und zerstreuen", statt
aufzubauen und zu sammeln. Jeremia meint Könige, Richter oder Kaufleute, die in die eigene Tasche
wirtschaften und denen es dabei egal ist, ob das ganze Volk an den Rand des Abgrunds geführt wird,
wie Jeremia das zu seiner Zeit erleben musste. Eine ganze Elite hatte versagt und die Nation ruiniert.
"Ihr habt meine Schafe zerstreut und versprengt und habt euch nicht um sie gekümmert. Jetzt ziehe ich
euch zur Rechenschaft wegen eurer bösen Taten - Spruch des Herrn."
- Es bleibt jedoch nicht bei der politischen Kritik. Jeremia gibt Gott die Stimme, wenn dieser den
Menschen die Zusage macht: "Ich selbst aber sammle den Rest meiner Schafe aus allen Ländern",
wohin sie durch die Zerstörung Jerusalems und die Deportationen durch die Babylonier verstreut
worden waren. Gott wird, so ist Jeremia überzeugt, dies dadurch tun, dass er "für sie Hirten bestellen"
wird. Durch Menschen also wird Gott handeln. Dies ist ein Grundzug der biblischen Weltsicht, dass
das Handeln Gottes und das Handeln von Menschen in seinem Auftrag nicht von einander zu trennen
ist.
[Das gilt sogar für das Handeln eines Königs Nebukadnezzar von Babylon, der die Israeliten versprengt
hatte. Selbst in dem fremden König sieht Jeremia Gottes Handeln, der in die Geschichte eingreift.
Deswegen steht dort auch das für uns befremdliche Wort: "wohin ich sie versprengt habe". Keinen, so
könnte man sagen, entlässt Gott aus der Verantwortung für sein tun, sei er auch noch so reich und noch
so mächtig.]
- Der dritte Teil des Prophetenspruches wird allerdings darüber hinausweisen. Jeremia sagt: "Seht, es
kommen Tage - Spruch des Herrn -, da werde ich für David einen gerechten Spross erwecken."
Damit
dürfte er zu seiner Zeit die konkrete Erwartung verbunden haben, dass
aus der legitimen Königsdynastie, die auf David zurück geht, ein
Herrscher hervorgeht, der wirklich nach Recht und
Gerechtigkeit handelt und damit Gottes Willen vollbringt.
["Der HERR ist unsere Gerechtigkeit" werde dieser König heißen - und damit das Gegenbild zu dem
zu Jeremias Zeiten herrschenden Zidkija sein, dessen Name bedeutet: "Der HERR ist meine
Gerechtigkeit".]
Aber schon vor Christi Geburt haben gläubige Juden verstanden, dass mit dieser Verheißung des
kommenden Königs die Grenzen unserer Zeit gesprengt werden: Auf diese Gerechtigkeit kann jede
irdische Herrschaft nur verweisen, nie aber sie für sich in Anspruch nehmen. Mit Jesus Christus wird
klar, dass es um diesen König sogar noch mal anders ist: In der Zeit erscheint dieser König, dieser "gute
Hirte" (Joh 10,14); "Er stiftete Frieden und versöhnt", sagt Paulus. Aber er tut dies nicht machtvoll wie
ein König, sondern ohnmächtig, wie ein Sklave. Gerade damit weist er über diese Zeit hinaus, weil in
ihm Gott, der Herr, als der Liebende offenbar wird.
3. Genuin christliche Verantwortung
- Wir sollten auf die Bildsprache der Bibel nicht leichtfertig verzichten. Sie formuliert eine genuin
biblische Verbindung von Herrschaftskritik und personaler Verantwortungsethik. Denn was hier gesagt
wird, gilt nicht nur für Könige und Hirten, auch nicht nur für Tankwarte und GPS-Ingenieure. Vielmehr
wird hier für jeden gläubigen Menschen eine Richtschnur und ein Verstehensmodell formuliert.
- Wir tragen für einander Verantwortung. So wichtig die Rolle von sozialen, wirtschaftlichen und
politischen Strukturen ist, es sind immer Menschen, die sich fragen lassen müssen, wie sie dort, wo sie
sind, handeln. Jeder muss sich also fragen, ob er zu denen gehört, die "zugrunde richten und
zerstreuen", oder ob das, was ich tue, dazu beiträgt, mich und andere aufzurichten und Gemeinschaft
zu fördern. Wer mehr Macht hat, hat mehr Verantwortung. Aber Verantwortung hat jede und jeder.
- Das genuin biblische aber ist noch mehr. So wenig Gott uns aus
unserer Verantwortung entlässt, so
wenig brauchen wir Gott aus seiner zu entlassen - wie sollte das auch
gehen? Praktisch bedeutet das,
mich ganz auf Gott, wie er in Christus als der Hirte seines Volkes
offenbar geworden ist, einzuschwingen; von ihm her und aus der
Verbundenheit mit ihm Verantwortung wahrzunehmen. Ohne
Gebet geht das nicht. Zugleich aber kann ich darum wissen, das alles,
was wir in der Zeit tun, so sehr
wir es auch in Verbindung mit Gott tun, noch nicht die Verheißung des Propheten erfüllt.
"Seht, es kommen Tage - Spruch des Herrn -, da werde ich für David einen gerechten Spross erwecken."
Diese Verheißung wird im Kommen des Menschensohnes Jesus Christus sichtbar. Aber auch in ihm
nur, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, wird sich die Verheißung vollenden, in ihm, der für uns
zur Rechten des Vaters ist. Amen.