Predigt zum 15. Sonntag im Lesejahr C 2010 (Kolosserbrief)
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11. Juli 2010 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg
1. Anders begegnen
- Angenommen, Sie hätten einen guten Freund, der obdachlos geworden ist. Sie kennen sich seit
Jugendtagen. Es ist ein wirklich guter Freund, nur dass bei ihm nicht alles so gelaufen ist, wie man
sich das gehofft hat. Dass er seinen Job verloren und die Ehe in die Brüche gegangen ist, war wohl
auch seine Schuld. Irgendwie hat er den Halt verloren und lebt heute in einer anderen Stadt auf der
Straße. Man würde ja gerne helfen; aber die Erfahrung sagt, dass das seltenst geht.
- Angenommen, er ist Ihnen bis heute ein guter Freund, auch wenn Sie sich selten sehen: Würde das
etwas an der Weise ändern, wie Sie einen Obdachlosen hier bei uns sehen? Jeder, dem Sie in der
Stadt begegnen, hat seine eigene Geschichte. Die meisten stehen das nur mit Alkohol durch. Die
Lebensgeschichte kennen wir nicht. Aber die Geschichte des einen kennen Sie, es ist ja Ihr Freund
bis heute. Würde Sie deswegen den anderen Obdachlosen anders begegnen?
- Was wir von einander wissen und wie wir einander begegnen, hat mit einander zu tun. Im
Angesicht des einen können wir an das Angesicht des anderen erinnert werden. Dort, wo uns ein
Schicksal auch persönlich einmal berührt hat, kommt uns die abschätzige Bemerkung nicht mehr
so leicht - wenn überhaupt - über die Lippen.
2. Christus-Hymnus
- Der Mensch Jesus Christus ist der Ort, an dem wir Gott begegnen. In ihm zeigt sich Gott; er ist die
Offenbarung Gottes für uns. Gott will, dass wir ihn kennen lernen und deswegen zeigt sich Gott,
wie er ist. Christus ist nicht nur mehr, sondern fundamental anderes als nur ein Weisheitslehrer
oder moralisches Vorbild.
- Deswegen liegt hier auch der Schritt vom Ersten Testament, dem Bund mit Israel, zum Neuen
Bund, der in Christus verwurzelt ist: In seinem Blut, also seinem Leben, wie er es beim letzten
Abendmahl gesagt hat. Die Erfüllung des Ersten Bundes besteht darin, dass zunächst Gott in
seinen Geboten gesagt hat: "Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst". Jetzt aber wird aus
dem Sollen das Dürfen einer Begegnung: Ich begegne dir in deinem Nächsten, spricht Gott.
- Damit verändert sich unser Blick auf die Schöpfung. Zu Beginn des paulinischen Briefes an die
Christen in der Stadt Kolossä heißt es in einem altchristlichen Lied: "Christus ist das Ebenbild des
unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung, denn in ihm wurde alles erschaffen". Daher kann für uns die Begegnung mit Christus zum Schlüssel werden, die ganze
Schöpfung neu zu sehen. Und dann heißt es "Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten;
(...) Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles zu versöhnen". Das
aber heißt, dass auch die Erneuerung der Welt durch ihn geschieht. Er ist der Schlüssel, wenn wir
unser Leben erneuern wollen.
3. Christsein
- Der Kolosserbrief stellt dieses alte Lied an den Anfang, weil darin zusammengefasst ist, wozu wir
in der Taufe berufen sind. Die Forschung geht heute davon aus, dass der Brief zwischen 65 und 70
nach Christus entstanden ist; das Lied wird in diesem Brief zitiert, ist also noch älter. Wir rühren
hier also an die Urerfahrung der Christen nach Ostern. Christsein bedeutete für sie, Gott neu zu
sehen, sich ganz mit Christus zu verbinden, sich von Gottes Heiligem Geist erfüllen zu lassen und
aus diesem neuen Kennen Gottes neu zu leben und den Mitmenschen anders zu begegnen. Gott
spricht nicht mehr nur "Du sollst deinen Nächsten lieben", sondern: In deinem Nächsten begegnest
du mir, der ich Mensch geworden bin.
- Getaufte sind Freunde Christi. Weil Gott obdachlos geworden ist unter uns, können wir Obdachlose anders sehen. Wo wir helfen können, sollen wir helfen. Aber es ist mehr: Als Obdachloser in
dieser Welt hilft Gott uns zu einer neuen Freiheit und einer tieferen Liebe. Der Obdachlose ist es,
der uns beschenkt.
- Die Taufe hat uns zu einem Glied am Leib Christi gemacht. "Er ist das Haupt des Leibes, der Leib
aber ist die Kirche", also die Versammlung der Getauften, die zu Christus gehören. Es ist nicht
meine Leistung, dass ich getauft bin. Es ist nicht meine Überlegenheit über andere, dass ich Christ
bin. Hier ist vielmehr der Ort, an den Gott mich in seiner Liebe geführt hat, damit ich hier, in der
Mitte von Schwestern und Brüdern, mich hineinführen lassen kann in die Gegenwart Gottes, die
meinen Blick auf die Welt verändert. Hier ist der Ort, an dem der Leib Christi in meiner Zeit
erfahrbar ist. Amen.