Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 13. Sonntag im Lesejahr B 2000 (Markus)

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2. Juli 2000 - khg St. Nikolai, Göttingen, (Semesterabschlussgottesdienst)

1. Öffentliches Leid

  • Was für die Stars und Sternchen heute Lebens-Elixier ist, war für Jesus zwiespältig. Immer wieder verursacht er Menschenansammlungen, die ihm suspekt sind. Einerseits drängt es ihn, das Evangelium zu verkünden, andererseits hat er ein ausgeprägtes Gespür - und einige Erfahrung - dass die Botschaft bei einer Menge von Menschen oft anders ankommt, als sie gemeint war. Einschaltquote war nicht sein Erfolgskriterium. Im Medium der Öffentlichkeit gelten feste Gesetze der Kommunikation und Wahrnehmung. Gesellschaftliche Konventionen waren der Zeit Jesu nicht fremd und heutigentags übersieht man sie nur dann, wenn man mit Konventionen jeweils nur die von vorgestern meint und die Strukturen der aktuellen nicht wahrhaben will.
  • In den Begebenheiten, die das heutige Evangelium berichtet, erlebt Jesus wieder einmal, dass sich unversehens eine große Menschenmenge um ihn versammelt. Ein erwartungsvolles Publikum steht bereit. Vor ihn tritt ein Mann aus dem örtlichen Vorstand der Synagoge, mithin eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Im Unterschied zu manchen Konflikt-Situationen ist dieser Synagogenvorsteher jemand, der an Jesus glaubt, wobei es nicht nur um Wunderglaube geht, sondern immer auch um den Glaube an die Gottesnähe Jesu.
    Dieser Mann richtet vor aller Augen an Jesus die Bitte, mit ihm zu kommen, weil seine Tochter krank sei auf den Tod. Ja, er fällt vor Jesus zu Boden und fleht ihn an. Er drückt damit nicht nur sein Vertrauen zu Jesus aus, sondern vor allem auch, wie sehr ihm seine Tochter am Herzen liegt, wie sehr er um ihr Leben fürchtet. Jesus geht mit ihm - und eine große Menschenmenge geht mit.
    Die Krankheit der Tochter hat Öffentlichkeitswert. Von der Rolle, die ihr Vater in dem Ort spielt leitet sich das allgemeine Interesse an der Tochter ab. Familien von Stars sind immer schon von Interesse gewesen. - Umgekehrt kann man nur mutmaßen, wie die Tochter des Synagogenvorstehers dies alles erlebt hat, nicht erst jetzt, wo ihre Krankheit öffentlich geworden ist. Denn so ein Töchterlein ist nicht nur die Liebe, sondern auch der Stolz ihres Vaters. Dabei handelt es sich, wie wir erfahren, um eine junge Frau von 12 Jahren, damals das Alter der Heiratsfähigkeit und daher auf unsere Verhältnisse übertragen mit dem Alter von 18 bis 20 Jahren vergleichbar. Diese junge Frau ist "Tochter von...", wird wahrgenommen als "Tochter von..." und muss sich benehmen als "Tochter von...". Wenn von dieser Frau gesagt wird, dass sie krank ist bis auf den Tod, dann dürfen wir ruhig den Tod ihrer Persönlichkeit mithören, der sie schon längst ergriffen hat, wo sie nur gilt als das "geliebte Töchterlein des Synagogenvorstehers" und ihr die Ausbildung einer eigenen Persönlichkeit vorenthalten wird.
  • Als Jesus endlich zum Haus der Kranken kommt, laufen dem Vater schon die Boten des Unglücks entgegen: "Deine Tochter ist gestorben." lautet die Botschaft, die, gesprochen vor allem Volk, auch Urteil ist. Kein uneigennütziges Urteil, weil gerade das Leid der Figuren im Rampenlicht für die Menge so wichtig ist, kann man doch daran sein eigenes, gewiss kleines Glück, aufranken, wenn man mit den Großen um deren Unglück weint.
    Hier spricht Jesus sein erstes Wort zu Jairus: "Sei ohne Furcht, glaube nur!" ist die erste Aufforderung, sich vom Urteil der Menge zu lösen und die eigene Glaubenskraft zu entdecken. Gleichzeitig unternimmt Jesus den ersten Schritt, Jairus - und damit ja auch die Tochter! - aus dem Zusammenhang der Öffentlichkeit herauszuholen, indem Jesus von seinem Anhang alle zurücklässt außer den dreien - Petrus, Jakobus und Johannes -, die ihm am nächsten stehen.
    Da aber kommt es schon zur Konfrontation. Jesus kommt zum Haus und hört die, die das obligatorische Jammern und Weinen angestimmt haben - Ritus und Gefühl, Öffentlichkeit und Intimität fließen hier zusammen. Jesus aber stemmt sich dagegen. Für ihn ist "Tod" nicht das endgültige Urteil, weil er hinter diesem Tod das Aufwachen aus dem Schlaf sieht, die Überwältigung des Todes durch das göttliche Leben. Darauf aber reagieren die, die eben noch gejammert haben, mit der schärfsten Waffe gegen die Störer öffentlicher Riten, sie reagieren mit Lachen.
    Jesus aber schickt alle hinaus. Seine Hoffnung und seine Zuwendung gilt dem Menschen. Wenn er jetzt mit den Eltern und seinen engsten Freunden allein ist bei der jungen Frau, dann hat er die "Nebenwirkungen der Öffentlichkeit" ausgeschlossen, hat er sich ganz dieser Familie zugewandt. "Ich sage Dir, steh auf!" wird dadurch nicht zum Wunder, das eine Wiederherstellung des status quo ante bewirkt, sondern zur Zuwendung Gottes, die es dieser jungen Frau ermöglicht, erstmals sie selbst zu sein, nicht nur "Tochter von...". Und siehe da: sie steht auf und geht umher!
    Ein Letztes noch, überdeutlich, wird nachgetragen. Jesus schärft - wie es ausdrücklich heißt - den Leuten ein, das Ereignis nicht herumzuerzählen und lenkt ein weiteres Mal die Aufmerksamkeit auf das Mädchen allein. Er sagt: "Man soll ihr etwas zu essen geben!", nüchtern und praktisch gedacht, doch den Menschen im Blick, um dessen Heil es geht.

2. Stilles Leid

  • Äußerlich gesehen am Rande und doch in der Mitte des Geschehens ereignet sich eine andere, nicht minder dramatische Heilung. Oberflächlich betrachtet, tut Jesus hier das glatte Gegenteil von dem, was er zur Heilung der Tochter des Jairus tut. Was ist geschehen?
    Viele Menschen drängten sich um Jesus. Darunter war eine Frau. Das Schicksal dieser Frau ist das glatte Gegenteil zum dem der jungen Tochter des Jairus. Diese Frau ist - mit guten Gründen wohl aber systematisch - von der Gesellschaft ausgeschlossen. Seit zwölf Jahren schon leidet sie an ständigen Blutungen. Ihre Krankheit hat mithin auch schon die Volljährigkeit erreicht! Mit dieser Krankheit galt sie als unrein: Hygieneregeln, die ihren guten Sinn hatten und im kultischen Leben fest verankert waren führten dazu, dass diese Frau vom Leben in der Öffentlichkeit ausgeschlossen war. Sie blutete, verblutete in jeder Hinsicht. Nicht nur, dass sie mit der unfreiwilligen Abdrängung in den privaten Raum ihre Persönlichkeit vor der Gesellschaft verlor. Dort ist sie ein Niemand geworden, nicht wahrgenommen, nicht existent. Auch finanziell war sie ausgeblutet, nachdem sie von einem Arzt zum anderen gepilgert war. [Dies, nur am Rande bemerkt, bedeutet beim damaligen Stand der Medizin nicht etwa: "Seht her! Selbst die Ärzte konnten ihr nicht helfen!", sondern "Seht her! So am Ende ist diese Frau, dass sie sogar gezwungen war, sich in die Hände der Ärzte zu geben!"].
    Es dürfte nicht abwegig sein zu mutmaßen, dass diese Frau, gerade wegen ihrer Isolierung, auch in einem weiteren Sinne ausblutet, weil sie versucht durch selbstlose Hingabe und Engagement sich einen Platz im Bild der Leute zu schaffen, zu helfen, zu ackern, das eigene Herzblut zu geben. Ehrenwert und tragisch, weil niemals die Chance besteht, dadurch die öffentliche Anerkennung zu erreichen, die sie uneingestanden ersehnt.
  • So hat diese Frau gelernt - lernen müssen - mit ihrer Außenseiterrolle zu leben. Nur in der Anonymität der Masse wagt sie, der Niemand, sich in die Nähe Jesu. Sie hat Glauben. Sie hat Vertrauen. Sie sucht die Nähe Jesu. Aber nie und nimmer würde sie wie Jairus Jesus öffentlich ansprechen. In ihrer Not und Einsamkeit macht sie daraufhin etwas, was noch viel skandalöser ist als ein öffentliches Rufen. Sie berührt Jesu Gewand. Sie, die unrein ist aufgrund ihrer Krankheit und daher die Berührung anderer Menschen auf jeden Fall vermeiden muss, sie berührt mit verzweifelter Absicht Jesus - und wird von ihrer Krankheit geheilt.
  • Wie bei der Tochter des Jairus geht es Jesus aber nicht um das Symptom, sondern um die Wurzel der Krankheit. Er dreht sich um und sucht den Menschen hinter der Berührung und spricht die Frau an. Dass dies der Frau nicht Recht ist, ist ein Teil der Krankheit. Sie hat doch längst die Einsamkeit und Anonymität so internalisiert, dass sie darin nicht mehr die Folge der Krankheit erkennt. Kein Wunder also, dass sie zitternd zu Boden fällt, als Jesus sie anspricht. Das glatte Gegenteil zum Auftritt der Jairus. Dieser hatte seine öffentliche Identität und Rolle, der Frau war sie genommen worden. Daher ist es keine Doppelung der durch die Berührung schon erreichten Heilung, wenn Jesus ihr sagt: "Du sollst von deinem Leiden geheilt sein." Es ist erst recht eigentlich die Heilung, dass Jesus sie anspricht, sie ansieht, sogar ihren Glauben öffentlich macht, ein Glaube an Gottes heilende Kraft.

3. Heilung

  • [Der Mensch steckt in einem unauflöslichen Dilemma:
    - Einerseits wollen - und müssen? - wir unverwechselbar "ich selbst" sein. Seinem Selbst treu zu bleiben wird dem Menschen das vielleicht wichtigste Anliegen für sein Leben. Das heißt nicht, dass wir uns dessen so sicher wären, was und wer wir sind. Sicher aber will niemand nur aufgrund von Äußerlichkeiten beurteilt und in Schubladen gesteckt werden.
    - Andererseits ist das Äußere, das was die anderen von uns sehen, notwendig, eben damit wir wahrgenommen werden können. Mehr noch, wir sind in gewisser Weise wir selbst nur über diese Sphäre, die außerhalb von uns selbst liegt. Nur mit Distanz von uns selbst können wir "wir selbst" sein. Selbstdeutung und Selbsterfahrung gehen über andere und anderes. Der Weg nach Innen bedarf des Außenhalts. Nur im Umweg über andere können wir uns selbst besitzen (H. Plessner).
    Dieses Dilemma ist unauflöslich und alle, die versprechen es aufzulösen, heilen nicht, sondern bringen Unheil. Der Mensch ist eben gerade nicht das ausgeglichene Wesen, dass sich nur darüber klar werden muss, was sein "Selbst" ist, um dieses dann zu verwirklichen, genauso wenig wie der Mensch darin aufgeht, was er für andere ist. Unsere Freiheit verwirklicht sich vielmehr darin, dass wir zu uns selber nur über andere finden. Diese spannungsvolle Beziehung kann aber sehr wohl nach beiden Seiten ungleichgewichtig werden. Das heilbringende Handeln Jesu zielt daher immer auf die Freiheit des Menschen in der Spannung zwischen Äußerlichkeit und Innerlichkeit, öffentlicher und privater Existenz.]
  • Jesus heilt die blutflüssige Frau, indem er die Isolierung aufbricht, die durch die Krankheit verursacht war, wie vielleicht umgekehrt die Krankheit schon Symptom eines Selbstverständnisses gewesen sein kann, nach dem "ich" nichts zähle vor den anderen, außer ich gebe mich selbst völlig auf, gebe mein Herzblut für andere.
    Ein solcher Identitätsverlust kann auch weit weniger altruistisch aussehen. Die Aufgabe einer wirklichen Identität zugunsten einer e-mail Adresse im Kommunikationsraum der Chat-Rooms mag nicht weniger Symptom sein für den Verlust an Fähigkeit, die Zuschreibungen und Beschreibungen an mich heranzulassen, mit denen ich von den Mitmenschen bedacht werde, wenn ich vor ihnen öffentlich werde. Je anonymer der Kontakt ist, desto weniger trifft die Zuschreibung mein tatsächliches Selbst, desto mehr gilt es nur noch einem imaginären Selbst, das mit der Kündigung des Providers scheinbar problemlos abgeworfen werden kann.
    Wenn Jesus die Frau an´s Licht der Öffentlichkeit zerrt, ist dies ein schmerzhafter Prozess. Aber es ist wahrhaft Heilung, weil es dieser Frau Leben eröffnet.
  • Nicht minder schmerzhaft kann die Heilung der jungen Frau sein, die bisher vor allem als "Tochter von..." gelebt hat. Denn so sehr sie auf den Tod krank war, bis zum Verlust ihrer selbst in der Rolle aufging, so sehr kann solch eine Situation auch als bergender, schützender Raum erlebt werden. Es ist doch die Heimat, an der des Menschen Herz hängt, nur oberflächlich durch Bilder, Landschaften, Häuser und Gesichter geprägt. Heimat ist vor allem der Raum, in dem ich selbst ebenso wie andere nach vertrauten Regeln gebunden bin. Dass man gegen diese Regeln und Normen kämpft, ändert daran unter Umständen nichts, sondern verschärft die Abhängigkeit nur.
    Daher kann die Heilung, auch von dem Zuviel an Heimat, schmerzvoll sein. Herausgelöst aus dem Gestrick von Beziehungen und Bestimmtheiten findet sich die junge Frau allein, muss selbst ihren Weg gehen und braucht ihre eigenen Kraftquellen.
    Jesus heilt sie, auch wenn dies ein schmerzhafter Prozess ist. Durch diese Heilung beginnt die Chance, nun selbst das Gleichgewicht zwischen Selbstbestimmung und Rolle in der Gesellschaft zu finden.
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    Durch das Schmerzhafte dieser Heilung wird auch noch einmal bewusst, dass die Verwirklichung unserer selbst erst dort sich erfüllt, wo wir als unverwechselbare freie Menschen in einer Heimat ganz hineingenommen sind in einen höheren Zusammenhang. Diesen Himmel werden wir auf Erden nicht erreichen. Aber wir können ihn glaubend ertasten, wenn wir uns von Jesus heilen lassen. Amen.