Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 1. Fastensonntag Lesejahr C 2022 (Lk/Dtn/Russland-Ukraine)

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6. März 2022 - St. Sebastianus, Sinzig-Bad Bodendorf

1.      Identität

  • Identität ist die Voraussetzung, dem Bösen zu widerstehen. Davon bin ich überzeugt. Wer nicht weiß, wer er selbst ist, wird keine Kraft haben, dem Versucher zu widerstehen. Die Antworten Jesu, mit denen er die Versuchungen zurückweist, zeugen allesamt von seiner jüdischen Identität. Er weiß sich als Kind seines himmlischen Vaters und steht in der Tradition der Heiligen Schriften Israels. Von hierher kommt seine Identität.
    [Wer meint, das Mensch müsse seine/ihre/diverse Identität fluide halten und sich jederzeit neu erfinden können, bewegt sich ohnehin in der Blase einer oberen sozialen Schicht und pseudointellektuellen Sondergruppe. Die Aggressivität, mit der diese Theorien vorgebracht werden zeugen von ihrer Schwäche.]
  • Andererseits ist es eine berechtigte Frage, ob eine religiöse Identität nicht potentiell gefährlich sei, mindestens so sehr wie eine nationale.
    Der Absolutheitsanspruch der Religion mache intolerant, sagt man, und kann dafür gute Beispiele aus der Geschichte anführen. Das gilt zumal, wenn sich Religion und Nationalismus verbinden, wie dies seit 20 Jahren bei der Führung der russisch-orthodoxen Kirche der Fall zu sein scheint.
  • Aber es gibt mindestens so viele Hinweise darauf, dass eine spirituelle und intellektuelle Vernachlässigung der Religion erst recht gefährlich ist. Wo die Kirche kein geistliches Niveau bietet und theologisch verflacht, blühen die militanten Sekten und bekommen die Vereinfacher Oberhand. Das ist in allen Religionen in der Moderne erschreckend eindeutig. Auch das legt die gegenwärtig herrschende Moskauer Orthodoxe Kirche leider nahe.
    Ja, ohne Identität kann niemand auf Dauer dem Bösen widerstehen. Fehlgeleitete Identität aber ist gefährlich verführbar. Nationalreligiöse Identität ist verführbar und birgt das Böse in sich. Zumindest ist das eine Erklärung für den Krieg, den eine russische Machtelite derzeit über Europa bringt. Sie bedient seit zwei Jahrzehnten dabei die nationalreligiöse Klaviatur und hat viele Christen (übrigens auch bei den konservativen Katholiken in Deutschland) verführt. Es ist hohe Zeit, darüber zu reden.

2.      Nation

  • Mein Vater war ein heimatloser Arramäer.“ Mit diesen Worten beginnt ein wichtiges Glaubenszeugnis im Alten Testament, das wir heute als erste Lesung gehört haben. Noch nach Jahrhunderten erinnert sich beim Dankgebet jeder Israelit daran. Die Sklavenzeit in Ägypten ist ebenso präsent wie das Exil in Babylon. Daraus ist eine Identität erwachsen: Israel ist das Volk, dazu berufen, in dankbarer Freude und durch ein Leben nach Gottes Geboten, Gottes Gegenwart zu erfahren. Daran knüpft Jesus an. Dadurch widersteht er dem Versucher, der ihn zu Macht und Einfluss drängt.
  • Zu dem Entsetzen über den Angriffskrieg, den die russische Führung gegen die Ukraine führt, gehört das Unverständnis für die Unterstützung, die im eigenen Land da ist. Nach Jahrzehnten des sowjetischen Atheismus war die Sehnsucht, die frühere nationale Größe wiederzuerlangen, verbreitet. Das kann ich nachvollziehen; aber ich kann es natürlich nicht gutheißen, weil es die Rechte der anderen Nationen verletzt.
    Doch in Russland spielt auch das Christentum wieder eine Rolle. Der Patriarch von Moskau hat sich schon lange an das Putin-Regime verkauft. Aber das erklärt nicht alles. Vielmehr gibt es eine für die russischen Christen zentrale Erzählung über ihre Berufung, das Herz der Christenheit zu sein. Die Bedrohung – das ist die alte Erzählung – kommt aus dem Westen: Papismus, Kommunismus und nun Dekadenz des Westens.
    [Die religiöse Unterstützung für politische Extremisten in Russland ist kein Sonderfall: Wie blutig haben unsere französischen Nachbarn in Algerien gekämpft, bevor sie von einer ganz ähnlichen Phantasie Abschied genommen haben? – Und die Ukraine verbindet historisch weit mehr mit Moskau, als Algerien damals mit Paris. Und doch stehen sowohl der FN wie traditionalistische katholische Kreise in auffälliger Tradition zu dieser Vergangenheit - auch wenn hier natürlich kein Angriffskrieg geplant wird, so doch der Kampf gegen den Islam, ähnlich dem Kampf der Nationalreligiösen in Ruisslnad gegen de Westen.]
  • Gott hat – das ist ja nicht nur Ideologie! – die slawischen Völker zum christlichen Glauben geführt und damit verhindert, dass der Glaube allein der Überformung durch die römisch-fränkische westliche Kultur in juristisch-rationalistischen Formen erstarrt. Wer will bestreiten, dass da viel Wahres dran ist? Der in den letzten Jahren von der russisch-orthodoxen Kirche wiederentdeckte und von Putin gepriesene religiöse Philosoph Iwan Iljin hat im Angesicht des (aus dem Westen importierten!) Marxismus das Programm vor nun schon fast 100 Jahren formuliert: Die russische Erde hat einen Glauben geformt, dessen tiefe Christus-Mystik die ganze Christenheit befruchten kann. Iljin rief dazu auf, das Böse in Gestalt der kommunistische Gewaltherrschaft in seinem Land zu bekämpfen Der demokratische Aufbruch in der Ukraine – das macht Putin heute viele orthodoxe Christen glauben – sei heute das Böse, die größte Gefahr für die christliche Identität Russlands.

3.      Russland

  • Daher nochmals zum Evangelium: Identität ist die Voraussetzung, dem Bösen zu widerstehen. Davon bin ich überzeugt: Wer nicht weiß, wer er selbst ist, wird keine Kraft haben, dem Versucher zu widerstehen. Das gilt auch und gerade angesichts verblendeter Identität.
    Auch und gerade die russische Orthodoxie ist ein unverzichtbarer Teil der Christenheit. Ihre nationalreligiöse Identität ist von sich aus nicht böse und nicht aggressiv gegen andere Völker. (Wenn, dann ist sie aggressiv gegen die römisch-katholische Kirche, aber die kann das aushalten.) Ich denke, es ist ein großes Versäumnis der deutschen katholischen Kirche, an einer Engführung der Ökumene festzuhalten, die nur die reformatorischen Kirchen sieht und die Orthodoxe selten genug im Blick hatte.
  • Doch wie immer im Glauben braucht es eine Unterscheidung der Geister. Das gilt besonders, wenn russische Christen im Westen und in unserer Lebensweise nicht nur das Fremde, sondern das Böse zu sehen meinen.
    Denn da finden sie sich schnell im Boot mit der Führungselite um Präsident Putin, der nicht das ukrainische Militär oder die Waffen der Nato fürchtet, sondern die Freiheit der Gedanken, die in der Ukraine seinem Reich bedrohlich nahegekommen ist – und dagegen mit brutaler Gewalt kämpft.
  • Die Unterscheidung der Geister sehen wir bei Jesus, der in der Wüste auf die Verführungen des Satans antwortet. Dieser will Jesus dazu verführen, ein Messias nach der Weise der Menschen zu sein: Mit Macht und Einfluss. Jesus aber weist genau das damit zurück, dass er sein Vertrauen ganz in Gott und nicht in spektakuläre Machttaten setzt. Das Evangelium zu lesen und es fruchtbar werden zu lassen ist die Brücke, die wir zu unseren russischen Schwestern und Brüdern bauen können. Doch nur ein erneuerter Glaube unter uns, unsere Identität als glaubende Menschen, kann letztlich wirklich ein Dienst am Frieden sein. Amen.