Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt 1. Adventssonntag Lesejahr B 1993 (Thematisch)

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28. November 1993 - Gottesdienst in Sankt Marien Viersen-Hamm

Thematische Predigt
Männerwerk der Diözese Aachen; Männergespräch, Thema: Migrationsethik

Leitsatz: Gottes Gebot ist die Leitregel zum Überleben des Menschen.

1.

  • Das Evangelium wird im Lektionar eingeleitet mit: In jener Zeit (... wie so oft). Das ist irreleitend, da es eine ganz bestimmte Zeit ist. Nicht etwa, wie der Advent nahelegt, Zeit der Vorbereitung, sondern: das letzte Wort Jesu vor dem Finale in Jerusalem.
    Dennoch ist es »typisch christlich«, richtig, dass wir am Ersten Advent eine Endzeitrede hören. Denn damit ist das christliche Verhältnis zur Zeit beschrieben: Weil wir das Ende erwarten, sind wir wachsam in der Gegenwart, weil diese Gegenwart von Gott geheiligt ist. Der Herr der Zeit ist in der Zeit. Von ihm können wir lernen: in souveräner Nähe zu den Problemen unserer Zeit zu leben. Souverän: weil unser Heil von Gott abhängt; Nähe: weil Gott sich nicht neben, sondern in der Welt aussagen wollte.
  • Der Vortrag im Anschluss an die Hl. Messe wird sich damit beschäftigen, welche ethischen Maßstäbe sich finden lassen, um auf die Wanderungsbewegungen in der heutigen Zeit zu reagieren. Da es dabei vor allem um politische und allgemein sozialethische Fragen geht, will ich die Predigt nutzen, um die Heilige Schrift danach zu befragen, welche Orientierung wir dort finden.
  • Die zehn Gebote stehen nirgendwo in der Bibel in der Form, in der sie der Katechismus lehrt. Die Stelle aus Levitikus 19 ist besonders interessant. In ihrem Zentrum steht das Gebot, das wir meistens nur im NT vermuten: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
    Dabei ist ganz deutlich, wer mit Nächster gemeint ist: Der Mensch, der zu meinem Stamm gehört, der Stammesgenosse. Dieser Zusammenhalt in der Sippe war für das Volk Israel Voraussetzung des Überlebens. Den Menschen musste klar sein:
    - Wenn ich auf Kosten meines Volkes lebe,
    - wenn ich meine Stammesgenossen belüge,
    - wenn ich unseren Gott nicht ehre,
    - wenn ich als Richter ungerecht bin,
    - wenn ich im eigenen Volk Blutrache fordere - dann zerstöre ich meine eigene Lebensgrundlage.
    Obwohl: Die Tatsache, dass diese Forderungen ausgesprochen werden müssen, zeigt, dass diese Zusammenhänge ignoriert werden können - und ignoriert wurden. Offensichtlich spricht der Text zu einem Volk, dass nicht mehr in der unmittelbaren Not lebt, sondern in der Gefahr steht, diese einfache Tatsache zu vergessen: Dass der einzelne Mensch nicht aus sich lebt, sondern aus der selbstverständlichen Solidarität der anderen.

2.

  • Am Text (Lev 19) fällt auf: Dass Gott diese Regeln mit sich selbst verbindet. Immer wieder die Begründung: Ich bin der Herr, euer Gott. Das bedeutet: Gott setzt das ganze Gewicht seiner Autorität ein, um uns das Überleben zu ermöglichen, denn um nichts anderes geht es in der Forderung der Nächstenliebe.
  • Das hat eine weitreichende Konsequenz: Wenn es sich mit Gottes Heiligkeit nicht verträgt, dass wir einander betrügen, belügen und bestehlen, dann fallen die Grenzen, die wir gerne ziehen.
    Der Text der Lesung macht das überdeutlich: Im direkten Anschluss an das Gebot, den Nächsten, sprich: Stammesgenossen zu lieben, folgt der Satz: Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst. Damit ist klar gemacht, dass eine selbstgefällige Nächstenliebe nicht möglich ist.
  • Wir sollten aufmerksam die Begründung lesen, warum wir auch die Fremden, nicht nur die Stammesgenossen lieben sollen.
    Der erste Grund ist Gott selbst, souverän. Er lässt es nicht zu, dass wir zwischen guten und bösen Nächsten unterscheiden. Er ist Gott, er ist der Herr und alle Unterscheidung zwischen Menschen, wo Menschen meinen, übereinander zu Gericht sitzen zu müssen, sind demgegenüber zweitrangig.
    Das zweite Argument ist nachdenklich: Ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. An das Volk, das sich in Sicherheit niedergelassen hat, wird die Forderung gestellt, die eigene Erfahrung nicht zu vergessen. Es ist nicht aus der Luft gegriffen, wenn wir heute aufgefordert werden, zurückzudenken an die Millionen von Deutschen, die als Flüchtlinge durch Europa getrieben wurden, die Strafe für die zahlen, die meinten, sie seien etwas besseres.

3.

  • Aber: Es geht nicht einfach nur um Vergangenheit. Als der Text von Lev 19 aufgeschrieben wurde, lebte Israel schon gar nicht mehr im eigenen Land, sondern war erneut in Gefangenschaft, im Exil in Babylon. Wenn in dieser Situation erinnert wird an das Gebot Gottes, nicht nur die eigenen Leute zu lieben, sondern genauso die Fremden zu achten, dann geht es um die Bedingung des Überlebens für Israel selbst. Die Zukunft des eigenen Volkes hängt von der Gültigkeit der Fremdenliebe ab.
  • Damit sind wir sprunghaft in unserer bundesrepublikanischen Wirklichkeit.
    Es ist keine absurde Zumutung, dass wir die Fremden unter uns achten sollen, statt sie als Betrüger zu verleumden. Vielmehr geht es um unsere eigene Zukunft.
    Wenn wir unsere Wohlstandsinsel abschotten und alles Fremde rausschmeißen, dann wird diese Welt - völlig zurecht! - über diese ihr fremde Insel hinwegschwappen. Dann werden diese paar Prozent Menschheit, die sich anmaßen drei Viertel aller Rohstoffe und Energie zu verbrauchen, sehr schnell von dieser Welt als fremd ausgestoßen werden.
  • Gott spricht: Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott. In diesem Gebot zeigt Gott sich selbst als ein Freund des Lebens, ja des Überlebens, dem unsere Zukunft am Herzen liegt. Wo seine Heiligkeit mit Missachtung gestraft wird, zerstört sich das Leben in eigener Selbstgefälligkeit. Amen.