Predigt zu Neujahr 2012 (Galaterbrief)
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1. Januar 2012 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg
1. Ideologien und Gruppen
- Vier verheerende Ideologien hat das 19. Jahrhundert hinterlassen. Der Nationalismus endete in
den ethnischen Säuberungen, der Kommunismus in den Zwangssystem und den Gulags, der
wissenschaftsgläubige Biologismus hat dem Rassismus vorgearbeitet, und auch die Folgen des
Kapitalismus sind in der Ausbeutung der Natur und vieler Menschen sichtbar und nur in Teilen
durch soziale Marktwirtschaft eingedämmt.
- Aber vor allem die ersten drei Ideologien basieren auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die
durch diese Ideologien behauptet wurden: einer Nation, einer Klasse oder einer Rasse. Die
Zugehörigkeit zur Gruppe geht immer einher mit der Abgrenzung gegen die Anderen. Alle
Ideologien aus dem 19. Jahrhundert wollten Fortschritt und verstanden sich als Vorreiter der
Zukunft - einer Zukunft, die so ganz anders aussah, als es verheißen worden war.
- Die Zukunftshoffnungen sind leise geworden. Die Ideologien sind ausgedünnt. Heute bestimmen
andere Faktoren, wo ich dazu gehöre und wo nicht. Vor allem, was sich einer leisten kann,
welche Marken und welche Wohnlage er wählt, bestimmt heute über Zugehörigkeit oder
Ausgegrenztsein. Das verfügbare Geld bestimmt uns mehr, als uns vermutlich bewusst ist. Hinzu
kommt natürlich die unsichtbare Abgrenzung nach reichen und armen Ländern und Kontinenten.
2. Elementarmächte dieser Welt
- In seinem Brief an die Christen in dem Gebiet Galatien in Zentralanatolien findet Paulus einen
Ausdruck, mit dem er solche Bindung beschreibt, unter der wir Menschen stehen: "Sklaven der
Elementarmächte dieser Welt" (Gal 4,3). Was unsere Übersetzung mit "Elementarmächte"
wiedergibt ("Στοιχεια"), ist ein Wort, das all das umfasst, was aus dem Allgemeinen kommt und
uns Menschen im Konkreten bindet: Die Elemente, aus denen die geistige und soziale Welt
zusammen gesetzt ist.
- Paulus weiß, dass diese "Elementarmächte" ganz verschieden sind. Im Blick auf die Christen in
Galatien damals hat er wahrscheinlich zwei besondere im Blick: Einmal die Verhaftetheit an ein
Gesetzesdenken, dem es nur auf die Erfüllung von Regeln ankommt, aber den Geist der Regeln
vergessen hat. Dann das ganze System aus Göttern und Herrschaften, das für die römische Antike
so typisch war. Es wäre interessant, welche "Elementarmächte" Paulus für jeden von uns
ausmachen würde. Letztlich kann nur jede Zeit und jeder für sich selbst kritisch schauen, welche
"Elementarmächte" uns binden.
- Vielleicht finden wir unsere "Elementarmächte" am ehesten durch Fragen: Was bestimmt mich,
wenn es darauf ankommt, mehr als das Vertrauen in Gott? Dieses "Wenn es darauf ankommt" ist
gegeben, wenn ich vor der Entscheidung stehe, mich für die Nächstenliebe und Gerechtigkeit zu
entscheiden, auch dort wo es meine Sicherheiten und gewohnten Denkmuster gefährdet. Wenn es
gilt, einem Menschen beizustehen, der wie die Ehebrecherin gesteinigt werden soll, oder bei Jesus
zu bleiben, wenn sie ihn zum Kreuz treiben - dann merke ich sehr schnell, was mir wichtiger ist.
Für uns heute sind es nicht mehr die großen Ideologien, die Rasse, die Nation oder die Klasse, die
wir über alles stellen. Aber es reicht manchmal schon als "uncool" zu gelten, und wir machen
Kompromisse.
3. Töchter, Söhne und Erben
- In den wenigen Versen im Galaterbrief fasst Paulus sein Evangelium zusammen. Gott wurde
Mensch unter Menschen; er hat sich den Gesetzen dieser Welt unterworfen, um an unserer Seite
Sohn des himmlischen Vaters zu sein, "damit wir die Sohnschaft erlangen".
Paulus wählt dabei
ein juristisches Bild. Nicht wie unmündige Kinder, die noch unter
Vormundschaft stehen, will
Gott uns annehmen, sondern als mündige Erwachsene adoptiert er uns. Er
macht und zu Schwestern und Brüdern seines Sohnes, damit wir mit ihm
Erben des Himmelreiches sind. Aus diesem
Status, der auf alle Menschen abzielt, sollen wir unsere Sicherheit
gewinnen; die Verbindung zur
Liebe des Vaters soll uns die Souveränität geben, uns nicht aus der
Bindung an die "Elementarmächte dieser Welt" bestimmen zu lassen. Diese Mächte machen Menschen zu Sklaven; als
"Sohn oder Tochter" Gottes sind wir frei.
- Paulus hat dabei die Taufe im Blick. Das Wasser der Taufe kommt aus dem vertrauenden
Glauben an Gott. Zugleich sendet Gott dabei "den Geist seines Sohnes in unser Herz". Die Taufe
ist ein "äußerlicher" Vorgang, der aber aus dem glaubenden Vertrauen vollzogen wird, dass Gott
mich unvollkommenen Menschen adoptiert und mir all das vererben will, was in dieser Welt und
darüber hinaus für uns bereit liegt. Wer auf Rasse, Klasse, Nation, auf Familie, soziale Gruppe
oder einfach nur auf Geld sein Vertrauen setzt, wird letztlich davon abhängig: Sklave. Wer
wirklich verstanden hat, was es bedeutet, Kind Gottes zu sein, im Leben und im Tod, wird frei
sein für die dienende Liebe im Geist Christi.
- Wie sehr Paulus überzeugt ist von dem Zusammenhang von quasi
juristischer Sohnschaft/Tochterschaft und dem Erbe einerseits und dem
ganz von Innen kommenden starken
Verhältnis zu Gott andererseits, das kommt darin zum Ausdruck, dass er
an dieser Stelle das Wort
einfügt, das für das Gebet Jesu typisch und prägend ist: "Abba, Vater". Aus dem jüdischen
Glauben hat Jesus die Anrede Gottes als Vater übernommen.Dass er aber den liebevollen
Kosenamen für den himmlischen Vater, "Abba", wählt, das macht deutlich, dass es im Glauben
immer neben dem Äußeren und Juristischen um das ganz persönliche, das vertrauende und
zutrauende Verhältnis zu Gott geht. "Gott rettet", bedeutet der Name Jesus. Jesus hat aus dem
Vertrauen darauf gelebt. Und "Gott sandte den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der
ruft: Abba, Vater". Amen.