Predigt zu Neujahr 2001 (Neujahr ökumenisch)
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1. Januar 2001 - St. Johannis, Göttingen
1.
- Auch wenn wir uns häufig nicht so verhalten: Christen
unterscheiden sich von ihren Zeitgenossen nicht dadurch, dass sie
besonders
viel Weisheit ihr eigen nennen könnten, sondern nur dadurch, wo sie
Weisheit suchen: in Christus.
Wir sollten uns daran erinnern, dass das unterscheidend Christliche
nicht das Haben der Weisheit ist, sondern das Suchen in
Christus. Das ist nicht leicht auszuhalten, weil wir es vorziehen etwas
zu haben und festzuhalten. Damit hätten wir aber auch die
Zukunft festgehalten - und dadurch verloren.
- Die Jahreslosung für das Jahr 2001 spricht dem gegenüber eine andere Sprache. "In Christus liegen verborgen alle Schätze der
Weisheit und Erkenntnis." Verborgen ist die Weisheit in Christus. Sie wird nicht frei Haus serviert und ist nicht zu konsumieren. Sie
verbirgt sich wie Gott sich verbirgt, um uns nicht mit seiner Gottheit zu überwältigen, sondern durch seine Menschwerdung zu
umwerben. Schmerzlich mag das sein für alle die Wunder und klare Beweise suchen. Schmerzlich ist die Verborgenheit Gottes aber
vor allem, weil wir selbst uns aufmachen müssen. Und wirkliche Veränderung ist schmerzlich.
- Die Losung, die uns durch das Jahr begleiten soll ist daher ein
Vorsatz. Es ist ein Weg, der vor uns liegt und nicht abgeschlossen ist.
Die Losung mahnt uns an ein Geheimnis, das nicht durch
Erkenntnisbemühung und Studium zu entdecken ist, sondern nur, wenn wir
unser eigenes Leben in seiner konkreten Gestalt durch die Begegnung mit
diesem Geheimnis verändern lassen.
2.
- Die Weisheit zum Leben ist nicht irgendwo, sondern in Christus verborgen. Im Evangelium des Tages nach Lukas haben wir gehört,
wie Jesus selbst mit Zitaten aus dem Buch Jesaja vorstellt: "Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe;
damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze
und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe."
In seiner Heimatstadt stellt sich Jesus nicht mit Wundern und Zeichen
vor, sondern indem er von seiner Berufung spricht. Er spricht
davon, wozu er gesandt ist: das Leben von Menschen zu verändern: Armen,
Gefangenen und Blinden. Er ist gekommen, um ein
Gnadenjahr auszurufen.
Was hier mit "Gnadenjahr" übersetzt ist heißt wörtlich "ein dem Herrn
angenehmes Jahr", ein Jahr also ganz nach dem Geschmack
Gottes. Der Zusammenhang mit der Befreiung der Armen und Gefangenen
macht deutlich, was so ein Jahr nach dem Geschmack
Gottes ist. Und es schwingt darin auch die Erinnerung mit an das, was im
Alten Testament für das fünfzigste Jahr gefordert ist: dass
jeder, der aus Not und Verschuldung sein Land verloren und in Armut
geraten ist, dieses zurück erhält. Das Gnadenjahr meint also
eine Zeit, in der die Menschen wieder das erreichen und erlangen, wozu
sie geschaffen und berufen sind. Es ist ein Jahr der
umfassenden Befreiung, das hier anbrechen soll.
Zu was aber befreit? Und wovon befreit?
- Zum letzten Jahreswechsel wurden viele kluge Analysen über das
vergangenen Jahrhundert veröffentlicht. Was aber das prägende
Merkmal des neuen Jahrhunderts sein wird, lässt sich aus der Gegenwart
nur ahnen. Alles deutet darauf hin, dass nach der Zeit der
Industrialisierung und der großen Fabriken die Zeit der Kommunikation
anbricht. Mindestens so sehr wie die alte Wirtschaft teilt die
neue die Menschen ein in die Erfolgreichen und die Verlierer.
Deutschland hat wohl nach dem alten Verteilungskampf zu den
globalen Gewinnern gehört und strengt sich an, dieses auch in den neuen
Zeiten zu tun. Der Preis dafür ist hoch, für uns und die anderen.
Wenn auch der Wohlstand sich weiter steigern lässt (für die "oben"). Die
Frage ist, wie wir an Menschlichkeit gewinnen, wie wir an
Weisheit gewinnen, ob es ein Gnadenjahr(hundert) des Herrn wird oder ein
Fluch. Des Einen bin ich mir sicher: Wie wir leben, wie
wir produzieren, konsumieren und kommunizieren, das alles entscheidet
zentral darüber, ob wir Gott den Zugang zu unserer Welt
versperren - und uns das Geheimnis der Weisheit Gottes verschütten.
- Wenn Kommunikation für die Zukunft zentral wird, lohnt es sich, Kommunikationsgewohnheiten anzuschauen.
- Eine erste Beobachtung. Sie können bei einem Besuch in ein noch so intensives und gutes Gespräch vertieft sein. Wenn das
Telefon klingelt, wird dafür alles andere unterbrochen. Menschen erlauben den Einbruch des Klingeling in ihre Privatsphäre,
egal ob nur ein Falsch-Verbunden auf der anderen Seite ist. Wie gut das Gespräch gerade auch sein mag: am Telefon könnte
etwas noch wichtigeres sein.
- Der Schrecken einer zunehmenden Zahl von Menschen ist: Nicht erreichbar zu sein. Das Handy ist daher die Erlösung. Nicht
nur zu Hause kann alles, was immer man gerade tut, unterbrochen werden durch einen Anruf. Überall und jederzeit will man
erreichbar sein.
Ob Kirche oder Konzert, Konferenzraum oder Kino - es gibt keinen Ort, an dem ich noch nicht ein Handy habe klingeln
hören. Seit es Geräte gibt, die nur vibrieren statt zu läuten, ist das Prinzip der universalen Erreichbarkeit noch eleganter zu
verwirklichen.
- Das Internet ist dem gegenüber für viele noch ein Rückschritt. Denn um per e-mail erreichbar zu sein, muss man on-line und
an seinem Computer bleiben. Es gibt Beobachtungen an der Universität hier in Göttingen, wonach eine wachsende Zahl von
Studenten bis zu zehn Stunden am Tag am Computer on-line sind. Nicht die ganze Zeit sitzt man am Gerät. Aber - jederzeit
bereit! - so viele Stunden wie möglich sitzen Menschen in ihrem Zimmer, um erreichbar zu sein. Es könnte ja eine e-mail
kommen oder ein buddy aus dem chat-room sich melden. Studentenwohnheime melden Schwierigkeiten, die Leute zu
Veranstaltungen auf dem Stockwerk zusammen zu bekommen, wenn man nur auf dem Zimmer erreichbar ist.
Zum Glück wird schon bald für diejenigen, die das Geld für die hard-ware haben, das mobile chatten möglich. SMS zeigt den
Weg. Dann ist man wieder, wie mit dem Handy jederzeit erreichbar.
3.
- Des einen können wir sicher sein. Wir werden Gott in unserem Leben nur entdecken können in der Weise wie wir leben. So wie die
Ungerechtigkeit das Bild Gottes verdunkelt ist, auch die Weise in der wir leben und kommunizieren nicht zu trennen von den
Möglichkeiten, die wir Gott lassen, sich uns mitzuteilen.
Dabei ist die Zahl der Menschen hoch, die auf der Suche sind nach der
Weisheit Gottes, nach einer Weisheit die das übersteigt, was
unsere Lebensgestaltung ausmacht. Das Telefon steht verheißungsvoll da,
wird angestarrt in Erwartung eines Anrufs. Die hard-ware
ist eine immer neue Flut von Angeboten, göttlich-esoterische Weisheit zu entdecken. Und jedes Schweigen Gottes treibt den
verzweifelten Kreislauf von Nachrüstung und Enttäuschung an. Eine Flut von junk-mail kommt an, aber nichts, das mich anspricht
und erreicht und verändert. Hochgerüstete Kommunikation und abgrundtiefe Einsamkeit.
- In der Synagoge von Nazaret kündigt Jesus mit seinem Kommen ein Gnadenjahr Gottes an, eine Zeit der Befreiung. Was anbricht ist
ein Jahr nach dem Geschmack Gottes. Dieses müssen die christlichen Kirchen verkünden, auch und gerade, wenn dieses der
herrschenden Kultur schmerzlich weh tut. Der Schmerz der Verborgenheit Gottes ist der Schmerz einer Kultur, in der jeder meint
jederzeit erreichbar zu sein, aber gerade in seiner Einsamkeit sich alle Quellen verschlossen hat.
- Christus weicht dem Schmerz nicht aus. Das Kreuz ist Zeichen seiner bewussten Annahme. Die Befreiung, die Gott uns anbietet,
kommt nicht als konsumierbare message bei uns an, sondern besteht in dem Weg, den wir gehen.
Der erste Schritt wird sein, dass wir lernen, einmal alle Geräte abzuschalten und zu dem anderen Menschen hinzugehen. Zu dem
Armen, dem Gefangenen, dem Zerschlagenen und dem Blinden. Die Kirche wird nicht dadurch zur Verkündigung Christi, dass sie
zusätzliche Nachrichten auf den Müllberg der Informationen aufhäuft, sondern dadurch, dass sie ein Ort der Begegnung wird.
Der erste Schritt wird sein, dass wir lernen, Gottes Wort in
Gemeinschaft zu feiern, indem wir Leib Christi werden, Leib des
geschundenen, gekreuzigten und doch auferstandenen Herrn. Am Bett eines
Kranken und Sterbenden, in der Gemeinschaft derer,
die im Straßengraben der Datenautobahn leben, in der Gemeinschaft derer,
die das Suchen nicht verlernt haben, ist dieser Christus.
In ihm ist die Weisheit Gottes verborgen. Amen.