Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Never let Go (2024) - Ein Horror-B-Movie theologisch gelesen

von P. Martin Löwenstein SJ

"Never let go" (USA 2024) von Alexandre Aja mit Halle Berry, Percy Daggs IV, Anthony B. Jenkins

In English Horror in theological view

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Es gibt bessere Horrorfilme. Aber dieser besticht nicht nur durch das großartige Spiel seiner drei Hauptdarsteller und eine stimmige Atmosphäre. Aus theologischer Perspektive wird hier der Horror einer zwanghaften Familienidylle entfaltet verbunden mit dem in den USA offenbar epidemisch gewordenen Dualismus (... das Böse, das von draußen kommt).

Eine Film-Empfehlung ist das Folgende nur für Liebhaber des Genre.

Doch erst nach dem Filmbesuch lesen: Spoilerwarnung!

Draußen lauert das Böse. Drinnen verschließt die Mutter in einer Schatulle die letzten verbliebenen Bilder aus jener alten Welt, bevor das Böse alles verschlungen hatte. Für einen kurzen Moment ist auch eine Bibel zu sehen, die sie dort vor ihren beiden etwa elfjährigen Söhnen Sam und Nolan weggeschlossen hat. Ahnt sie, dass das eigene System nicht funktionieren würde, wenn einer der Zwillinge in der Bibel lesen würde?

Denn die Mutter hat seit ihrer Kindheit den beiden beigebracht, dass sich in dem weiten Wald draußen das Böse befindet, welches den Tod bringt. Solange sie mit der bergenden Hütte verbunden bleiben, in der die drei einsam in der kanadischen Wildnis leben, sind sie vor dem Bösen beschützt. Der Filmtitel bezieht sich darauf, dass sie das Seil, welches sie sich fest um den Leib schlingen und welches sie mit der Hütte verbindet, niemals lösen dürfen. Die Verbindung zur heimischen Hütte ist essenziell. Zugleich definiert das Seil den Aktionsradius in der gefährlichen Außenwelt. Sobald sie das Haus verlassen, müssen sie es sich fest um den Leib binden, um sich vor dem Bösen zu schützen. Beim erneuten Betreten der Hütte zwingt die Mutter, ein Holz wie einen Talisman zu berühren. Dazu müssen sie einen magischen Text wie ein Gebet aufsagen, welches am Ende auf eine Verkehrung des biblischen "Unsere Heimat ist im Himmel" (Phil 3,20) hinausläuft: "Heaven is home!"

Die Mutter spinnt um diesen Dualismus des Bösen draußen und des Guten drinnen mythische Geschichten und Bilder, die eine hohe Überzeugungskraft besitzen, vielleicht aber auch einfach nur hochmanipulativ sind. Die beiden Kinder hängen an ihren Lippen Doch der Zweifel nagt an Nolan. Zudem führt der Hunger bei allen dreien nicht nur inneren Zweifen, sondern auch ganz real an den Rand des Verhungerns.

Weiter als das Seil reicht, kommen sie nie vom Haus fort. Und das Wenige, das sie dort zu essen finden, reicht nicht. In früheren Jahren haben sie über den Sommer genug gesammelt, um den Winter zu überleben. Aber diesmal ist das Ende nicht mehr zu vermeiden. Das wenige, was sie in ihrer engen Welt zu essen finden, reicht nicht aus.

Der emotionale Höhepunkt kommt, als die Mutter als letzte Nahrungsreserve beschließt, den Hund zu schlachten. An dem Punkt macht Nolan nicht mehr mit. Er versucht, mit dem Hund und ohne Seil aus dem Haus zu fliehen. Die Mutter verfolgt ihn bis in das nahe Glashaus. Dort schließt Nolan sie ein und zerschneidet ihr das rettende Seil ... und dort bedrängen die Mutter sofort die schrecklichen Geister, die man schon zuvor im Wald immer mal wieder im Hintergrund gesehen hatte, jedesmal wenn uns der Film in der Perspektive der Mutter gezeigt wird.

Im Vergleich zu anderen Horrorfilmen sind die verstorbenen Eltern und der verstorbene Ehemann der Mutter nicht unangemessenen gruselig gezeigt. Aber der Schrecken ist deutlich genug. Es ist der durch einen gewaltsamen Tod entstellte Vater, die vom Gift gezeichnete Mutter und der eigene Ehemann, die sie als todesbedrohlichen Schrecken verfolgen.

Die Jungs sehen von außen, dass das Böse die Mutter geholt hat. Die Mutter liegt tot in ihrem Blut. Die Zwillinge liegen mit ihrer Überzeugung, dass die Mutter sie nie belogen habe, nicht ganz falsch. Die Gefahr ist real. Der Schrecken ist echt. Die drei sind Untote. Doch man ahnt zunehmend, dass das Böse, das die drei untoten Geister in den Tod getrieben hat, nicht von draußen kam; das Böse kommt nicht aus dem Wald, sondern lauert tief in der Mutter. Auf ihrem Rücken ist das Tattoo einer Schlange eingraviert, das sie vor ihren Kindern versteckt. Vielleicht ist das alles nur das Böse, das aus ihrem eigenen Herzen kommt. Mt 15,19: "Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord ..."

War der Selbstmord vielleicht der eine, selbstlose Akt der Mutter, die bisher alles kontrolliert hatte? Im Gewächshaus in die Enge getrieben durch die Geister der Vergangenheit der eigenen Schuld, die sie auf sich geladen hat, nimmt sie eine Scherbe und schneidet sich selbst die Kehle durch, um zu verbluten. Vielleicht ahnte sie, dass sie etwas tun musste und merkte, dass sie das Böse nicht länger nach außen verdrängen kann. Ihre Kinder sind in Gefahr. Sie sind in Lebensgefahr. Die Mutter hatte immer alles für ihre Kinder gegeben. Sie hatte sie stets bewacht und behütet. Doch die eigentliche Gefahr trug sie in ihrem eigenen Herzen. Es bleibt offen, ob sie Selbstmord begangen hat, um die Illusion des Bösen aufrecht zu erhalten oder um ihre Kinder vor dem zu schützen, was in ihr selber schlummert.

Die schlussendliche Reinigung geschieht nicht im Wasser, sondern im Feuer. Denn die Mutter lässt die beiden Jungs mit dem Zweifel zurück, ob der Tod, den sie im Gewächshaus gefunden hat, der finale Beweis dafür war, dass man ohne am Seil angebunden zu sein, vom Bösen erfasst wird. Nolans Zweifel bleiben. Doch Sam ist überzeugt, dass der harmlose Wanderer, der eines Tages an der Hütte vorbeikommt und Essen anbietet, eine List des Bösen ist. Er erschießt ihn mit einer Armbrust. Da er seinen Bruder Nolan verdächtigt, vom Bösen verführt worden zu sein, schließt er diesen ein und brennt das Haus nieder. Nolan überlebt, weil er sich in einer Kiste versteckt, die die Mutter benutzt hatte, um die Söhne darin einzusperren, bis sie innerlich in einer Art geistlicher Übung das Böse gesehen hätten, das die Familie bedroht. Nun kämpft Nolan dort mit dem Geist der Mutter, die sich in eine Schlange verwandelt. Nolan lässt das Böse nicht los, umarmt es, bis es sich auflöst.

In der Schlussszene werden die Kinder von einem Hubschrauber gerettet und in die nächste Siedlung geflogen. Es wird klar, dass die Geschichte der Mutter, sie seien die letzten Überlebenden im Wald, gelogen war. Aber ist das Böse, das die Mutter so fest im Griff hatte, überwunden? Oder legt es seine kalte Hand auf die Schulter eines Kindes, das von seiner Mutter so erfolgreich in eine pseudoreligiöse, dualistische Welt gezwungen worden war?