Erste Überlegungen zum Thema Wunder - Philosophische Begriffsklärung
Impuls von P. Martin Löwenstein SJ zu "Fromm aber Fair", einem Diskussionsabend zum Thema Wunder
in der Kath. Gemeinde St. Ansgar in Hamburg Niendorf am 17. November 2011
"Verbittet sich die Vernunft die Einmischung Gottes in den geordneten Lauf der Welt?"
Da für diesen Impuls zum philosophischen Aspekt des Themas Wunder nur 5 Minuten zur
Verfügung stehen, werde ich versuchen, es mit ganz einfachen Begriffen einzuführen - und
behalte mir vor, im Laufe des Abends differenzierter zu werden, also auch Einfachheit
zurück zu nehmen. Jetzt aber will ich versuchen, Wörter in dem Sinn zu verwenden, wie sie
vermutlich die meisten von uns mit ihrem Alltagsverstand verwenden würden. Das Wort
Wunder wird heute gerne für allerlei Staunenswertes verwenden; hier sei strikt das gemeint,
was allgemein als "religiöses Wunder" verstanden würde.
I. Wunder und Wissenschaft
- Wunder würden wir nur etwas nennen, was nicht durch natürliche Ursachen
vollständig erklärt werden kann, selbst dann nicht, wenn wir um alle natürlichen
Umstände wüssten. Wunder kann also nur sein, was gar nicht natürlich erklärt
werden kann, nicht jedoch was noch nicht erklärt werden kann. Unter "natürlich"
verstehe ich dabei alles, was 'von alleine' oder 'ohne Zutun' geschieht: es ist in der
Kette von Ursache und Wirkung nach vorne (und nach hinten) vollständig eingegliedert.
- Daher wäre ein Wunder mit den Methoden der Naturwissenschaft unerkennbar,
denn 'naturwissenschaftlich erkennen' bedeutet, etwas aus natürlichen Ursachen zu
erklären: Der Ball rollt, weil diese Kraft auf ihn eingewirkt hat etc.. Wenn die
Naturwissenschaft etwas nicht erklären kann, dann kann sie lediglich sagen: "Bisher
sind die Ursachen noch nicht erkannt, wir müssen weiter erforschen und so den
Bereich des Unerkannten verkleinern." Nie kann die Naturwissenschaft sagen: "Bei
diesem oder jenem Phänomen sind natürliche Ursachen auszuschließen." Ausschließen können wir bestenfalls bisher bekannte Ursachen.
Das gilt auch dort, wo die heutige Naturwissenschaft davon ausgeht, dass etwa Tiere
oder Menschen "spontan" etwas tun; auch hier kann man streng nur sagen: Bisher
kennen wir keine notwendigen Ursachen und nehmen daher an, dass z.B. der Hund
spontan an diesem und nicht an jenem Baum sein Bein hebt.
- Mit naturwissenschaftlichen Methoden kann man über die Möglichkeit von
Wundern prinzipiell nichts sagen, außer dass vieles, was Menschen früher für
Wunder gehalten haben, später naturwissenschaftlich erklärt werden konnte.
- Was wir Wunder nennen, ist ein Ereignis in der 'Welt der sinnlichen Dinge'. Philosophisch kann ich daher nur darüber nachdenken, ob Wunder möglich sind,
vielleicht auch ob sie wahrscheinlich sind, aber ich kann philosophisch nie beweisen, ob es je ein Wunder gegeben hat, noch gar, ob dieses oder jenes Ereignis ein
Wunder sei, denn Philosophie beweist keine Tatsächlichkeit in der Welt der sinnlichen Dinge.
- Kurz gesagt: Wunder können prinzipiell nie bewiesen, nur
im Einzelfall naturwissenschaftlich widerlegt werden. Die Möglichkeit
von Wundern dagegen ist
eine sinnvolle Frage der Philosophie.
II. Freiheit und Gott
- Zwei weitere Dinge bleiben für die Naturwissenschaft unerkennbar: Freiheit
und Gott. Die Naturwissenschaft funktioniert, indem sie jedes Ding oder Ereignis
aus einem anderen erklärt. Die Voraussetzung dieser Methode lautet daher: Alles
hängt mit allem kausal notwendig zusammen; alles, was es gibt, kann durch ein
anderes, das es gegeben hat, erklärt werden.
- Wie ihn die Hochreligionen verstehen, ist Gott aber nicht ein Teil von 'allem',
als
wäre Gott erster Verursacher in einer Kette. Gott ist vielmehr der
Verursacher und
Erhalter der ganzen Kette. Ohne Gott gäbe es die ganze Kette von
Ursachen nicht,
egal ob diese Kette räumlich oder zeitlich begrenzt ist ("vom Urknall
bis zum
Weltuntergang") oder ob Raum und Zeit sich ohne Ende ausdehnen.
Naturwissenschaften können daher (aufgrund ihrer Methode der Erforschung
von Ursache und
Wirkung 'innerhalb von allem') Gott weder erkennen noch ausschließen.
- Ebenso kann die Naturwissenschaft Freiheit weder erkennen noch ausschließen.
Denn Freiheit wäre ja eine Wirkung, die nach hinten (aus der Vergangenheit) nicht
vollständig bestimmt ist, sondern von einem nicht vollständig bedingten Willen
eines Subjektes verursacht wird.
Gerade weil Freiheit beansprucht, zumindest teilweise ohne Notwendigkeit zu sein,
ist sie für eine Wissenschaft, die von der Notwendigkeit von Ursache und Wirkung
ausgeht, nicht erkennbar. Es könnte ja doch sein, dass es notwendige Ursachen gibt,
die wir nur noch nicht erkannt haben, und daher fälschlich einen freien Akt als
Ursache annehmen. (Dies gilt auch dann, wenn Vorgänge im subatomaren Bereich
der Quanten nicht determiniert, sondern 'zufällig' und in Ursache/Wirkung nur
statistisch zu beschreiben wären, denn hier wird der Zufall und nicht ein Wille
angenommen).
III. Wunder unter der Annahme Gott/Freiheit
- Eine Methode, die zu Gott und Freiheit nichts sagen kann, kann auch zu Wundern
nichts sagen. Wenn diese Methode zu einem Weltbild erhoben wird, das Gott
und Freiheit ausschließt, muss dieses Weltbild auch Wunder ausschließen.
- Umgekehrt bleibt die Frage, ob ein Weltbild, das Gott und Freiheit für gegeben
hält, Wunder für möglich oder gar wahrscheinlich hält. Die schwierige Frage, ob es
vernünftig ist, Gott und Freiheit anzunehmen, kann hier nicht geklärt werden. Es sei
aber darauf hingewiesen, dass dies eng mit der Frage nach Geist/Materie oder
Leib/Seele zusammenhängt.
- Weiter gehend muss gefragt werden, ob der Geist nur auf die biophysikalischen
Zusammenhänge des Gehirns einwirken kann, oder ob er auch
darüber hinaus
Ursache im Bereich der sinnlich erfahrbaren Welt sein kann (also etwa
ein Krebsgeschwür heilen, eine befruchtete Eizelle im Schoß einer
Jungfrau entstehen oder
einen Windsturm stillen kann).
- Wenn es Gott und Freiheit gibt, dann kann es zwei Formen von Wundern geben:
Das Freiheits-Wunder und das Gottes-Wunder. Ersteres wäre gegeben, wenn die
menschliche Freiheit in irgendeiner Form etwas willentlich bewirkt, das nicht durch
vorherige Ursachen bestimmt ist. Letzteres wäre gegeben, wenn Gott innerhalb der
Kausalkette der Natur einen solchen Neuanfang setzen würde.
- Das Freiheits-Wunder folgt notwendig aus der Definition von Freiheit, weil
Freiheit, die nichts bewirkt, keine Freiheit wäre.
- Beim Gottes-Wunder müssen wir darüber nachdenken, (1) ob es vernünftig ist ein
solches anzunehmen, und (2) ob es wahrscheinlich ist, dass Gott ein solches
Wunder wirkt. Und wir sollten (3) fragen, in welcher Beziehung zur menschlichen
Freiheit ein Gottes-Wunder stehen würde.
- Die Theologie muss zu (2) fragen, ob aufgrund ihres 'Wissens' von Gott Gottes-Wunder wahrscheinlich sind: Würde es zu dem passen, was wir sonst theologisch
von Gott sagen, wenn Gott Wunder wirkt, oder würde es dem widersprechen?
- Dies hängt eng mit der Frage (3) zusammen; auch diese ist theologisch: In welcher
Beziehung zur menschlichen Freiheit stünde ein solches Wunder? Würde Gott
Wunder vermittels der menschlichen Freiheit wirken (also durch den menschlichen
Geist auf die materielle Welt einwirken), oder würde Gott umgekehrt auf die
materielle Welt einwirken, um mit dem Menschen punktuell in Beziehung zu treten,
oder wäre beides möglich? (Das müsste man dann kompliziert etwa so sagen: Wenn
der Mensch aufgrund seiner immer schon gegebenen Geschöpflichkeit in Beziehung
auf Gott als den 'transzendentalen Grund von allem' unvermischt und ungetrennt in
Annahme dieser Geschöpflichkeit - also "in Erfüllung des Willens des Vaters" -
einen punktuellen Freiheitsakt setzt und sich zugleich von diesem staunend betreffen
lässt, dann ereignet sich ein Wunder.)
- Die erste Frage dagegen, (1) ob es vernünftig ist, ein Gottes-Wunder für möglich
zu halten, ist eine philosophische Frage. Hier können wir im Laufe des Abends
miteinander die Argumente prüfen.