Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zu Weihnachten in der Nacht 2021

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24.12.2021 - St. Sebastianus Bad Bodendorf bei Sinzig

1. Furcht

  • Lukas erzählt von den Hirten auf den Feldern nahe Bethlehem. In dieser wunderbaren Schilderung umfasst er so vieles, was über Jesus zu sagen ist: Seine Geburt aus Gott, doch inmitten des Volkes Israel, die Sehnsucht der Menschen und das Wunder einer Geburt.
    Mag sein, dass eine Erinnerung von Maria dem Evangelisten Anlass gegeben hat dafür; aber es ist so viel mehr als eine berührende Anekdote. Es ist ein kunstvoll erzählter Ausblick auf das, was Jesus Christus für uns Menschen ist. Deswegen jedoch erzählt Lukas auch von der Furcht: „Da trat ein Engel des Herrn zu den Hirten“, so wird erzählt, „und die Herrlichkeit des Herrn umstrahlte sie und sie fürchteten sich sehr.“

  • Das sollte uns interessieren. Von welcher Furcht ist hier die Rede? Welche Angst haben diese Hirten auf dem Feld?
    Ist es die Angst, mit der junge Menschen heranwachsen, die von der Gefährlichkeit eines Virus erfahren, und die von der Verantwortung erdrückt werden, die ihnen manchmal aufgebürdet  wird – als läge es an ihnen, ob Oma gesund bleibt. Oder ist es die Angst, die jeden beschleicht, der sich ernsthaft mit dem Thema Klimawandel befasst und sich fragt, ob wir Menschen das, was wir in den Industrieländern angerichtet haben, noch hinbekommen? Oder ist es gar die Furcht, die Menschen erlebt haben, die in ihren Häusern eingeschlossen die Flut steigen sahen und um ihr Leben bangten? Die Angst der vielen Flutopfer, die wir kaum ahnen können?

  • Wenn im Weihnachtsevangelium von Menschen erzählt wird, die von Furcht ergriffen werden, dann ist es richtig, auch von unseren Ängsten zu sprechen.

2. Fürchtet euch nicht

  • Wer die Bibel kennt, weiß, dass eigentlich immer von Furcht die Rede ist, wenn Menschen die Wirklichkeit Gottes erfahren. Wenn auch der Engel sagt "Fürchte dich nicht!", so ist es doch offenbar eine Erfahrung des Schreckens, wenn die Wirklichkeit Gottes über Menschen hereinbricht. Vielleicht ist es geradezu umgekehrt ein Zeichen, dass wir es viel zu sehr nur mit einem auf unser Wunschformat zurechtgestutzten Gottesbild zu tun haben, wenn dieses Erschrecken vor dem lebendigen Gott gänzlich fehlt.

  • Das heißt aber umgekehrt, dass Furcht nicht schon von vorne herein etwas Schlechtes ist. Im Griechischen gibt es für Furcht und Angst, ja sogar Schrecken, nur das ein Wort: phobos, ähnlich ist es mit fear im Englischen.
    Die beiden deutschen Wörter Furcht und Angst verwenden wir, denke ich, zumeist ohne großen Unterschied. Aber es ist ein hilfreicher Hinweis, dass das Wort ‚Angst‘ mit dem Wörtchen ‚eng‘ verwandt ist. Da ist die Angst gemeint, die unser Herz eng macht. Dagegen kennen wir ‚Furcht‘ auch aus dem Wort ‚Ehrfurcht‘ und merken: Es gibt ganz offenbar auch eine Furcht, die uns zur Ehrfurcht führen kann. Furcht, die nicht eng macht, sondern geradezu im Gegenteil dazu befreit und öffnet, dass wir andere und anderes als uns selbst ehren, anderes als nur uns selbst und unsere Befindlichkeit.

  • Wie arm und leer wäre ein Leben, das nicht mehr Ehrfurcht empfinden kann, weil es dazu zu abgeklärt oder verhärmt geworden ist. Wie kalt eine Welt, die sich selbst genügt und sich das so fremd klingende Wort des allmächtigen Gottes nicht mehr zumutet. Wie traurig, wenn der Zwang cool oder stark zu sein, dazu führt, dass ich statt Ehrfurcht vor dem Größeren nur noch die Angst kenne, dass meine überschaubare, beherrschbare Welt durch etwas erschüttert werden könnte, das größer ist als ich. – Hier bekommt der Zuspruch des Engels: „Fürchte dich nicht“ die Bedeutung: Lass Dich durch deine Furcht herausrufen aus deiner ängstlichen Enge. Es ist Gott, der dir begegnen will!

3. Ein Kind

  • Das hat sehr viel zu tun mit der Angst vor dem Virus, der beklemmenden Sorge um unseren Planeten, ja sogar dem Schrecken inmitten der Flut. Denn inmitten Deiner Angst ist Gott bei dir. Dort wo wir Menschen an unsere Grenzen kommen, gefangen in Angst, ist nicht der Abgrund des Nichts. Auch der Abgrund ist noch umfangen von dem, der größer ist, vor allem in seiner Liebe.

  • Deswegen erstarren die Hirten nicht in ihrer Furcht. Es wird im Evangelium nirgendwo gesagt, dass sie sich jetzt nicht mehr fürchteten, wo doch der Engel so nett zu ihnen spricht. Aber sie bleiben in der Furcht nicht reglos gefangen. Sie brechen auf und laufen zum Stall. „Eilend“, heißt es später, machten sie sich auf zum Stall, nachdem die Botschaft des Engels übergegangen war in einen himmlischen Gottesdienst mit englischem Gesang auf den Feldern. Die Hirten eilen zur Krippe.

  • Will ich die Furcht der Hirten verstehen, dann muss ich diesen Augenblick sehen, in dem sie das Kind erblicken. Was bedeutet das für einen Vater, wenn er zum ersten Mal dieses kleine, zerbrechliche Kindlein in seinen Händen hält, das seine Frau so lange schon in ihrem Leib getragen hat. Ob die Hirten das neugeborene Kind einmal so halten durften? Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass das ganze Geheimnis der Menschwerdung Gottes in dieser weihnachtlichen Szene zu fassen ist: Wenn die staunende Ehrfurcht vor dem unendlichen Wert, der Schönheit und Zerbrechlichkeit des Lebens in einem neugeborenen Kind zum Zeichen für Gottes Gegenwart wird. Eine Begegnung in freudiger Furcht und großer Freude. Eine Ehrfurcht die die Angst besiegen kann. Amen.