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Wann ist ein Film antisemitisch? |
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Kriterien für Antisemitismus im Film: Workshop
"Sehschule für Kinogänger" Zum Kinostart von "Die Passion Christi" von Mel Gibson. KHG Frankfurt am 17. März 2004, 20.15 Uhr |
Antisemitismus und Antijudaismus
Antisemitismus und Antijudaismus sind nicht das selbe, hängen
aber eng zusammen. Antijudaismus ist christlich oder muslimisch religiös
motivierte Ablehnung jüdischer Menschen und des jüdischen Volkes.
Insbesondere der christliche Antijudaismus hat über Jahrhunderte immer
wieder zu mörderischen Pogromen an Juden geführt.
Auch wenn der Antisemitismus der Nationalsozialisten völlig anders motiviert
war - nämlich biologistisch-rassistisch -, so konnte er seine verheerende
Wirkung nur entfalten, weil Judenverfolgung hierzulande durch die Tradition
eines christlichen Antijudaismus unterstützt oder hingenommen wurde.
In der filmischen Darstellung von Juden ist die Grenze zwischen Antijudaismus
und -semitismus fließend. Wir werden daher beide zusammen behandeln und
"Antisemitismus" im Folgenden als Oberbegriff verwenden. In beiden Fällen
richtet sich die Antihaltung gegen die selbe Personengruppe: das Volk der Juden,
in- und außerhalb des Staates Israel.
Antisemitismus in Jesus-Dramen
In der Darstellung biblischer Stoffe ist das Besondere beim Antisemitismus,
dass zwar fast alle handelnden Personen Juden sind, die Wahrnehmung dieses Faktums
aber zumeist nicht gegeben ist. Vielmehr werden unter allen Juden einzelne Gruppen
als "typisch jüdisch" dargestellt, wobei das "typisch jüdisch" sich
aus negativen Bewertungen speist.
Das können platte Vorurteile sein. Es kann aber auch sein, dass zutreffende
empirische Beobachtungen unterkomplex beschrieben werden. Ein klassisch zu nennendes
Beispiel bildet die Rede von Martin Hohmann zum 3. Oktober 2003: Er führt
die relative Überrepräsentanz von Juden in der kommunistischen Revolution
an, ohne politisch oder sozilogisch zu erklären, woher das kommt: Es sind
für ihn ganz einfach immer nur "die Juden". Bei Jesusfilmen oder Passionsspielen
ist zu untersuchen, ob erst unter allen Juden die Gegner Jesu als "die Juden"
identifiziert und dann in ihrer Motivation platt oder unterkomplex gezeichnet
werden.
Antisemitismus im Kino
Für das Kino gilt generell und bei handwerklich gut gemachten
Filmen besonders: Mindestens die Hälfte des Kinos findet nicht auf der
Leinwand, sondern in den Köpfen statt.
In Bezug auf Antisemitismus im Film bedeutet das, dass der politische und kulturelle
Kontext letztlich darüber entscheidet, ob ein Film antisemitisch ist. Ein
und das selbe Bild wirkt völlig verschieden in einem Kontext, der offen,
der latent oder der (sollte es das geben) überhaupt nicht antisemitisch
ist. Deswegen kann es sein, dass ein Film diesbezüglich in den USA, in
Russland oder in Deutschland grundverschieden ist, weil er grundverschieden
wirkt. Von daher müsste die Analyse in den Köpfen der Zuschauer beginnen
und kann eine seriöse Filmkritik diesen subjektiven Faktor wegen seiner
objektiven Bedeutung nicht ignorieren.
Beispiel 1 - Ausgrenzung: "Intolerance" (1916) von D.W. Griffith
Es sind nur wenige Szenen aus den "Jesus-Teilen" dieses frühen
Monumentalfilmes erhalten. Dennoch ist klar erkennbar, dass Griffith bei seinem
Versuch die Intoleranz anzuklagen selbst in Intoleranz verfällt: gegenüber
den Juden. In einer Szene, die zur Hochzeit von Kana gehört, werden zwei
Juden in einer Tracht gezeigt, wie sie auch noch 1916 unter US-amerikanischen
Juden vergleichbar anzutreffen war. Diese beiden sondern sich von Jesus und
den Gästen der fröhlichen Hochzeit von Kana ab. Die Botschaft lautet:
Juden sind frömmelnde Außenseiter, die missgünstige die Freude
des Hochzeitsfestes beäugen.
Beispiel 2 - Motivation: "Jesus von Nazareth" (1977) von Franco Zeffirelli
Antisemitismus liegt vor, wenn die Handlungen der Personen nicht oder
nicht hinreichend politisch oder psychologisch motiviert erscheinen. So muss
der Eindruck entstehen, dass sie so handeln, weil sie "Juden" sind. Im Kontext
von Jesusfilmen ist das offenkundig keine ausreichende Erklärung, da in
den Konflikten auf beiden Seiten Juden stehen. In den Köpfen der christlich
(vor allem durch das Johannesevangelium) geprägten Zuschauer sind die Mitglieder
des Hohen Rates und "die Volksmasse" eher "die Juden", während unausgesprochen
Jesus, Maria und die Apostel nicht als Juden wahrgenommen werden, da sie doch
"Christen" seien. Wenn nun der Hohe Rat völlig unmotiviert das Urteil über
Jesus spricht und die Hinrichtung durch die Römer betreibt, dann legt das
den Schluss nahe, dies geschähe, weil dies halt "die Juden" sind. So reproduziert
dann der Film Antisemitismus.
Franco Zeffirelli gibt sich erkennbare Mühe, diesen Fehler zu vermeiden.
Das Ergebnis aber ist zwiespältig. Denn der sehr differenziert gezeigt
Hohe Rat fällt nun in die Rolle des Grüblerischen (Anthony Quinn spielt
beeindruckend den Kaiaphas). Historisch aber ist es plausibler, dass es sehr
konkrete Machtinteressen einer bestimmten, vom Hellenismus und der römischen
Besatzungsmacht profitierende Herrschaftsschichten waren, die am Tod Jesu Interesse
gehabt haben. Was ist von einem Hohen Rat zu halten, der nach langen ehrlichen
Abwägungen einen Sohn des eigenen Volkes der Bestialität einer römischen
Strafe überlässt? Wäre es dann nicht doch besser deutlich zu
machen dass damals wie zu allen Zeiten Machthaber bereit sind, zu jedem Mittel
zu greifen und der Prozess eine Farce war?
Beispiel 3 - Der typische Jude: "Die Letzte Versuchung" (1988) von
Martin Scorsese
Ein Film ist antisemitisch, wenn es offen oder verdeckt Anspielungen
auf Topoi des klassischen Antisemitismus gibt. In der Vorurteilswelt des Antisemitismus
gelten Juden als:
In Martin Scorsese´s Film geht es nur ganz am Rande um den Prozess gegen Jesus. Das eigentliche Thema des Films ist ein innerchristliches und spielt sich zwischen Jesus und dem ganz gegen die Tradition gezeichneten Judas Iskariot ab. Entsprechend taucht der Hohe Rat nur ganz am Rande auf. Dort aber bedient Scorsese klassisch antisemitische Topoi: Die Szene, in der ein Rabbi (Hoherpriester?) eingeführt wird, beginnt mit einem Haufen Münzen, die aufwirbeln als Jesus die Händler aus dem Tempel vertreibt. Man sieht einzelne der Münzen auf einen Steinsims fallen, sieht eine Hand die danach greift und dann erst über den Arm die Figur dessen, der das Geld in die Hand nimmt: der Rabbi (Nehemiah Persoff). Auch wenn der Kontext des nun folgenden Dialoges keine Geldgier des jüdischen Rabbi suggeriert, ist der Konnex "Jude - Geld" durch die Bildgestaltung schon längst vollzogen.In dem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass traditionell in christlichen Passionsspielen gerne in "Judas dem Juden" alle antijüdischen Vorurteile versammelt wurden und Judas als der Inbegriff des verschlagenen, geldgierigen, den Heilnad ans Messer liefernden Juden gezeichnet wurde.
Beispiel 4 - Typenwahl: "Jesus Christ Superstar" (1973) von Norman
Jewison
Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass entgegen dem früher
und auch heute noch vielfach verbreiteten Halbwissen es sich auch bei Jesus
und allen seinen Jüngern um Juden handelte. Wenn in Jesusfilmen diese Gruppe
positiv konnotiert ist und - die Dramatik der Evangelien gibt den Stoff vor
- die Gegner Jesu negativ, dann ist zu untersuchen, ob die "Guten" von den "Bösen",
hier also "gute Juden" von "bösen Juden" rassistisch, also durch bestimmte
Gesichtsmerkmals, Körperbau etc., unterschieden werden.
Kein moderner Jesusfilm geht hier so weit wie die Verfilmung der Rockoper von
Tim Rice und Andrew Lloyd Webber. Hier ist der Hohe Rat in monströse schwarze
Kutten und Hüte gesteckt. Sie agieren entweder im Dunkeln, aus dem Dunkeln
oder sie sitzen wie düstere Krähen in einem Gerüst. Während
die Gruppe der Jünger Jesu multiethnisch gezeigt wird (der Europäische
Typ Jesus, der Afro-Amerikaner Judas, die Asiatin Maria Magdalena), sind die
Mitglieder des Hohen Rates ausnahmslos dunkle, schwarzhaarige Typen, zumeist
mit lockigem Bart.
In der Szene des Tanzes der Fünfzigtausend wird beiläufig mit einer
Handbewegung Jesu auf die im Hintergrund stehende Gruppe der schwarzberockten
Hohenpriester gezeigt und diese als "die Juden" bezeichnet (im Unterschied zu
den Römern und Simon dem Zeloten mit der Gruppe der"Fünfzigtausend").
Die ganze Darstellung des Hohen Rates schwankt zwischen schwarz-bedrohlich und
lächerlich; letzteres ist im Duett zwischen dem Bariton Kaiaphas und dem
Falsett Annas bereits von Lloyd Webber.so angelegt.
Beispiel 5 - Pilatus oder der Hohe Rat
Eine Frage fehlt noch in der Liste von Kriterien: Ist ein Film antisemitisch,
wenn er die Evangelien so darstellt, dass der Hohe Rat tendenziell belastet
und Pilatus tendenziell entlastet wird? In der Tat wurde dies in Passionsdarstellungen
gerne in antisemitischer Absicht gemacht. Man will "die Juden" als besonders
schuldig darstellen, indem Pilatus als der Zauderer gezeigt wird, der durch
"die Juden" gegen seinen eigentlichen Willen überredet werde, Jesus zur
Kreuzigung freizugeben. Dennoch ist diese Frage komplizierter, denn bereits
die Fragestellung "Pilatus oder der Hohe Rat?" ist dem Antisemitismus auf den
Leim gegangen, weil sie stillschweigend das Empfinden stützt, der Hohe
Rat sei identisch mit "den Juden" und "die Juden" würden durch die Sadduzäer
und die Schriftgelehrten dargestellt.
Innerhalb dieser "antisemitischen Vorvermutung" gibt es dann aber durchaus noch
mögliche Abstufungen: In der Version von Zeffirelli wird ganz massiv gezeigt,
wie die Hohenpriester mit viel Geschick Agitatoren unter das Volk mischen. Diese
erst schaffen es, durch ihre geschickte Platzierung in der Masse den Eindruck
zu erwecken, das ganze Volk würde den Tod Jesu fordern. Das Volk wird damit
mehr als Opfer der herrschenden Schicht denn als Täter gezeigt. Umgekehrt
ist die stärker antisemitische Variante, das Volk zugleich als Täter
und als wankelmütig zu zeigen: Am Palmsonntag noch habe es Jesus zugejubelt,
jetzt verurteile es ihn. So seien sie halt, "die Juden". In diese Richtung geht
unter anderem "Jesus Christ Superstar" in seiner Darstellung des Volkes.
Abschließend: Persönliche Bemerkung zu "The Passion of the
Christ" (2004) von Mel Gibson
Ab morgen kann jeder, der will, sich ein eigenes Urteil über den
Film von Mel Gibson bilden. Sicher sind hier nur einige, nicht alle Kriterien
für Antisemitismus in Jesusfilmen aufgeführt. Die Beispiele sollten
eine methodische Hilfe zur Beurteilung von "Die Passion Christi" sein.
Es bleibt bei jedem Jesusfilm die Problematik einer Vorlage, die in vielem innerjüdische
Konflikte widerspiegelt, die unkommentiert gelesen als antijüdisch interpretiert
wurden, häufig antijüdisch interpretiert werden. Ohne Kommentar muss
die Vorlage wohl auch antijüdisch interpretiert werden, wenn man etwa an
die Eigenart des Johannesevangeliums denkt, die Gegner Jesu als "die Juden"
zu bezeichnen. Eine solche Interpretation ist aber gegen den Sinn des Evangeliums
und gegen die christliche Botschaft - so verbreitet eine solche Interpretation
auch gewesen sein mag. Die Evangelien sind in einer Zeit entstanden, in der
sich die junge Kirche aus Juden und Nichtjuden zusammensetzte und sich zunehmend
gegenüber der Synagoge, dem offiziellen Judentum absetzte. Im Verhältnis
zum Judentum sind die Evangelien Texte einer aus dem Judentum stammenden, aber
aus ihm herauswachsenden Sondergruppe.
Auf diesem Hintergrund ist der Film von Mel Gibson vielleicht nicht spezifisch
antisemitisch sondern naiv. Darin besteht das ganze Problem. Denn die Naivität
der vielen Christen hat zum Holocaust beigetragen. Wir müssen als Christen
davon reden, dass Jesus, Maria und alle Apostel Juden waren und die Hinrichtung
Jesu von einer Machtclique betrieben wurde, die mit dem jüdischen Volk
nicht viel gemein hatte. Das Judentum ist die Heimat und Basis des christlichen
Glaubens. In Israels Glaubensweg, wie er in den Schriften der Bibel dargestellt
wird, sehen Christen den eigenen Glauben und das eigene Scheitern gespiegelt.
Die Diskussion um den Film "Die Passion Christi" macht mir deutlich, dass das
Bewusstsein um das Jüdische im Christentum häufig nicht über
die engen Zirkel theologischer Fakultäten und Akademien hinaus gekommen
ist. Am Karfreitag muss sich in den Predigten in unseren Kirchen zeigen, wie
weit wir daraus gelernt haben.
Veröffentlicht nur im Internet vorbehaltlich einer Überarbeitung
Anregungen und Kritik bitte an Martin.Loewenstein@Jesuiten.org