Predigt zu Karfreitag 2011
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22. April 2011 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg
1. Bildnis des Leidens
- Die Erinnerung an einen Weg der Erniedrigung und des Leidens ist uns bewahrt worden. Ein
Mensch wird zwischen den Mächtigen aufgerieben. Sein Leib wird geschunden und durchbohrt.
- Vor dem Bildnis dieses Menschen werden wir die Knie beugen. Wir verehren es, manche
werden es auch dieses Jahr wieder umarmen wollen, wie man einen geliebten Menschen
umarmt. Aber es bleibt das Bildnis des Leidens.
- Es ist auch das Bildnis Gottes. Dies klingt nicht nur wie ein Widerspruch: Wie sollte einer der
allmächtige Gott, Schöpfer des Himmels und der Erden sein, der zugleich dort, wo er den
Menschen erscheint, sich so erbärmlich zurichten lässt?
Es klingt nicht nur wie einer, es ist auch ein Widerspruch: Es ist die Weise, wie Gott dem
Leiden widerspricht, das wie ein Gericht über Menschen kommt. Wir können versuchen, diesen
Widerspruch zu erklären. Es ist immer wieder ein Versuch, zu verstehen. Dann werden wir aber
auch immer wieder spüren, dass nur theoretische Erklärungen leer bleiben. Es braucht uns, die
wir selbst uns einbringen, den Weg zum Kreuz selbst gehen, das Knie selbst beugen.
2. Die Knie beugen
- Das Bildnis des Gekreuzigten. Die Frau, die ohne Verwandte oder
Freunde in einer Altbauwohnung stirbt; die tage- und wochenlang von
niemanden entdeckt und auch dann von niemand
betrauert wird, der sie gekannt hätte. "Was ihr dem Geringsten getan habt...", sagt Jesus. Daher
gilt am Karfreitag: Vor ihr beugen wir die Knie.
- Das Bildnis des Gekreuzigten. Der Mann, der für Monate in einem deutschen Polizeigefängnis
weggesperrt wird um dann abgeschoben zu werden. Obwohl er kein anderes Verbrechen
begangen hat, als nicht in das Schema unserer Asylgesetzgebung zu passen, wird er zu den Verbrechern gezählt. Vor ihm beugen wir die Knie.
- Das Bildnis des Gekreuzigten. Die Mutter, deren Freunde sich nicht mehr bei ihr melden, weil
sie das schwer behinderte Kind nicht abgetrieben hat, und daher nicht mitgehen kann auf
unbeschwerte Partys bis in den frühen Morgen. Ihr Leben gilt den anderen als verpfuscht und
vergeudet. Vor ihr beugen wir die Knie.
- Das Bildnis des Gekreuzigten. Der Mann, der trotz eines Hochschulstudiums als Billigputzkraft
arbeiten muss, weil er seine Familie vor der Diktatur in seiner Heimat gerettet hat, und hier die
Sprache noch lernen muss und weil er die falsche Hautfarbe hat. Vor ihm beugen wir die Knie.
- Das Bildnis des Gekreuzigten. Der Mann im Endstadium des Krebses
auf der Intensivstation,
die tote Familie, verschüttet in den Trümmern ihrer Hütte auf Haiti, der
Demonstrant, erschossen in den Straßen von Kairo, das Kind, verhungert
im Sudan. Vor ihnen beugen wir die
Knie.
3. Erlösung
- Haben wir nicht mehr zu bieten? Konnte Gott nichts besseres tun, als das Kreuz zu schleppen
und sich festnageln zu lassen? Offenbar nicht. Offenbar ist Gott Gefangener einer Liebe, die
nicht fähig ist, den Menschen im Handstreich die Welt wieder aus den Händen zu nehmen, um
mit einer Heerschar himmlischer Engel die Herrschaft zu übernehmen.
- Wir sollen versuchen, dem Leid zu wehren, wo immer es geht. Wir sollen uns einsetzen für
Gerechtigkeit und Frieden für alle Menschen. Aber wir sollen und dürfen nicht zu dem Schwert
greifen, das doch immer nur alles zerschlägt, wofür Gott steht.
- Und dennoch ist das Kreuz mächtig. Dort, wo wir das Knie vor ihm beugen, bekennen wir, dass
Gottes Liebe mächtiger ist, als alles, was Menschen einander androhen und antun können. Wir
geben dem Opfer die Ehre und bieten damit den Tätern die Stirn. Wir treten hin vor das Bild
des Gekreuzigten und beugen die Knie. Amen.