Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 4. Sonntag im Lesejahr A 1990(Matthäus)

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27. Januar 1990 - Pfarrei St. Evergislus, Bonn Bad-Godesberg (Jugendgottesdienst)

1.

  • Die Bergpredigt ist zweifellos der bekannteste Teil des Neuen Testaments. Sie ist unumstritten. Ob Christ oder Nichtchrist: Die Ethik der Bergpredigt überzeugt. Alles, was ihr von den anderen erwartet, das tut auch ihnen! Nicht nur: Du sollst nicht töten!, sondern bereits Du sollst nicht zürnen! Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen!
    Uneinigkeit besteht allerhöchstens darüber, ob und wie die ethischen Forderungen der Bergpredigt nur privat oder auch öffentlich-politisch zu verstehen sind.
    Heute haben wir die Einleitung der Bergpredigt gehört. Sie steht bei Matthäus am Beginn des 5. Kapitels. Die Szene ist klar und aussagekräftig: Wie Mose vom Berg die Gebote des Alten Bundes verkündete, so verkündet Jesus vom Berg die Gebote des Neuen Bundes. Keine Gewalt anwenden, Barmherzigkeit, ein reines Herz haben, Frieden stiften.
  • Die alten Gleise, in denen wir individuell und gesellschaftlich und kirchlich vor uns hintrotten sind hinlänglich bekannt und schmerzhaft erfahren.
    * Wir leben nach wie vor in einer hochgerüsteten Welt, in der die Sprengkraft der Bomben reicht, die Menschheit um ein Vielfaches zu vernichten.
    * Wir geben unser Geld für Waffen aus, während Kinder verhungern.
    * Wir ruinieren in einem hemmungslosen Wirtschaftsboom unsere Umwelt, während zwei Millionen Menschen arbeitslos, gesellschaftlich wertlos gemacht werden.
    Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Die alten Gleise sind bekannt. Die Gewohnheit, der Trott, der Egoismus, die Gleichgültigkeit, die Lieblosigkeit.
  • Dann komme ich leicht zu der Position zu sagen: Unsere Zeit schreie nach der Bergpredigt. Nichts sei angesichts dieser Irrwege so wichtig, wie eine klare sittliche Botschaft.
    Die Bergpredigt ist dann das Sollen, fast das Müssen, das sein vernichtendes Urteil über diese Zeit spricht. Und die Bergpredigt ist dann der Maßstab, der es uns, den Christen, ermöglicht, den Umbau zu vollziehen, den wir vorhin hier symbolisch vollzogen haben: Von den ausgefahrenen Gleisen zu den neuen Seligkeiten.
    Es ist einfach tröstlich, zu wissen, dass wir im christlichen Glauben die moralischen Richtlinien haben, Umbau, Umgestaltung zu vollziehen: Perestroika.

2.

  • Aber wenn ich das so sage, dann kommen mir Zweifel, ob das so stimmt. Ihnen hoffentlich auch.
    • Der erste Zweifel heißt: Was ist eigentlich daran so spezifisch christlich, Friedensengagement und Kampf für eine ökologische Erneuerung zu fordern? Haben nicht diejenigen recht, die sagen: In der Bergpredigt sind gute, griffige Formulierungen für das, was heute notwendig ist. Aber den ideologischen Ballast des Christentums können wir uns dabei sparen.
    • Der zweite Zweifel heißt: Ist denn die Bergpredigt in erster Linie das, was ich bisher daraus gemacht habe: Ein Katalog ethischer Sätze. Können wir so einfach den Satz "Selig sind die Frieden stiften" umdeuten in "Du sollst Frieden stiften!"? Die moralische Uminterpretation der Bergpredigt (bei Autoren wie Franz Alt) geht souverän über den Text der Bergpredigt hinweg. [Interessanterweise setzen diejenigen, die sich gegen die Argumentation mit der Bergpredigt seitens der Pazifisten wehren, dieselbe moralische Interpretation voraus. Im CDU-Programm von 1981 hieß es: "Die Bergpredigt ist eine Mahnung an jeden Christen. In einer Welt, in der Menschen und Staaten sich im Geiste der Bergpredigt verhielten, bedürfte es keiner Verteidigung: Der Friede ohne Waffen wäre kein Traum, sondern Wirklichkeit." Nun aber verhalten sich die anderen nicht nach der Bergpredigt. Deswegen halten auch wir uns nicht daran. Das nennt sich "christlicher Realismus".]
    • Der dritte Zweifel heißt für mich: Stimmt es denn, dass das Christentum in erster Linie Moral ist, gar die bessere Moral. Erweist sich die Wahrheit des christlichen Glaubens funktional durch die besseren Rezepte für das gesellschaftliche Handeln?
  • Ich will Ihnen das, was ich meine, an einem "typischen" Gottesdienst erläutern.
    Wir fangen an mit dem Schuldbekenntnis:
    * Herr, wir bekennen dir, dass wir statt Frieden nur Hochrüstung schaffen.
    * Herr, wir gestehen uns schuldig, unsere Umwelt zerstört zu haben. 
    - Dabei wissen wir ja zum Glück genau, wo es lang geht.
    Die Lesungen werden illustrativ ausgesucht: Ein wenig Bergpredigt und aus dem Alten Testament dazu: Schwerter zu Pflugscharen; vielleicht im Zwischengesang mit einem Text von Franz von Assisi gewürzt.
    Dann die Predigt, kraftvoll, politisch, engagiert. Und die Fürbitten:
    * Wir bitten Dich für die Mächtigen: Lass sie ein Einsehen haben!
    * Und für uns selbst: Gib uns Beharrlichkeit und Kraft im Kampf um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
    Und dabei ist im Unterbewusstsein immer schon vorausgesetzt, dass wir ganz genau wissen, wie wir uns das vorstellen, Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
  • Es gibt so etwas wie die Arroganz der Moral, die natürlich immer in der Wir-Form auftritt, im Wesentlichen aber immer die anderen meint. Diese Arroganz der Moral ist - vielleicht - typisch christlich. Denn sie beruht darauf, dass sie Christentum und Moral in eins setzt.
    Wenn Jesus Christus sagt: Selig, die Frieden stiften!, behalten wir die Autorität Christi bei und formen den Satz zur moralischen Forderung um. Und diese Forderung ist (fast immer verschleiert) in erster Linie die Forderung an die anderen. Moral wird zur Vorwurfsmoral.

3.

  • Was steht denn nun wirklich drin, in der Bergpredigt? Ich glaube, es ist entscheidend, den Aufbau dieser Predigt zu sehen.
    Natürlich enthält die Bergpredigt viele ethische Weisungen. Aber mein Problem ist doch gar nicht so sehr, dass ich nicht wüßte, was ich tun soll. Die meisten ethischen Forderungen in der Bergpredigt sind allgemein verständlich, fast Gemeingut. Meine Erfahrung ist vielmehr, dass ich um das Gute weiß, und nicht die Kraft finde, es zu tun. "Ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will" (Röm 7,19) sagt der Heilige Paulus.
    Angesichts meines tatsächlichen Versagens kann die Konfrontation mit einer Moral-Bergpredigt vernichtend sein: Sie stellt mir mein Versagen unbarmherzig vor Augen; Verzweiflung und Angst wären die logische Folge.
  • Aber die Bergpredigt ist keine Moralpredigt. Sie beginnt nicht mit einer Forderung, sondern mit einer Zusage: Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich. Das heißt: Unsere Seligkeit hängt nicht davon ab, dass wir sie produzieren. Jesus preist die selig, die um die Unvollkommenheit dessen wissen, was sie tun. Und das im Indikativ: Es ist so!, nicht im Konditional: Es soll so sein!
    Bevor wir gut handeln können, sagt uns Jesus, dass wir von Gott her nicht davon abhängen, dass wir stark, gut, gelungen, vollkommen sind. Die reine Moral, die nur die Forderung kennt, fordert bis zur Unmenschlichkeit, weil wir immer hinter der Forderung zurückbleiben. Erst wenn ich weiß, dass mein Leben, meine Seligkeit nicht davon abhängt, bin ich frei genug, gut zu handeln.
    Das Sein kommt vor dem Handeln.
    Und das Handeln folgt aus dem Sein.
  • Es bleibt also genau kein moralisch neutrales, unpolitisches Christentum zurück. Gefühlspflege beim Sonntagsgottesdienst.
    Das Christentum ist eine Welt-Religion, eine weltliche Religion. Ihm liegt die Weltwerdung Gottes zugrunde. Unser Handeln muss sich von der Vernunft bestimmen lassen. Und die Vernunft ist immer auch eine praktische Vernunft: Was soll ich tun? Und hier, auf der Ebene der Vernunft, stellen sich mir sehr wohl all die Fragen, die dringend ein anderes Verhalten fordern. Und auf der Ebene der Vernunft leuchten mir die Argumente der des "ethischen Teils" der Bergpredigt ein und kann ich in einen öffentlichen Diskurs darüber eintreten.
    Denn: Der Glaube an die vergebende Nähe Gottes in Jesus Christus, der christliche Glaube, ist für uns Christen keine besondere Kompetenz in Sachen Moral, die wir anderen vorhalten, sondern die existentielle Ausgangsbasis, von Gott uns geschenkt zu unserem Heil und zum Heil der ganzen Welt. Amen.