Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 33. Sonntag im Lesejahr B 202003 (Markus)

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16. November 2003 - Universitätsgottesdienst, St. Ignatius Frankfurt

1. Es herrscht Chaos

  • An der Uni Frankfurt herrscht Chaos, zumindest hier und dort. Die Studierenden sind mobilisiert wie lange nicht. Streik liegt in der Luft. Einzelne Gebäude wurden besetzt. Während draußen die Polizei bereits in Aufstellung ging, geht es drinnen durcheinander. Dass der AStA die Lage kontrollieren würde ist zu viel gesagt; er bemüht sich zu koordinieren. Viele Studierende sind aktiv bei den Protesten mit dabei. Andere beschweren sich darüber. Wehe denen, die in diesen Tagen ein Examen vor sich haben!
  • Die angekündigte Einführung von Studiengebühren für Langzeitstudenten ist nur Auslöser. Was die Stimmung so gereizt macht, ist die allgemeine Lage an der Uni. Denn gleichzeitig werden Mittel gekürzt. Gleichzeitig quälen sich Studierende in überfüllten Hörsälen. Gleichzeitig können Pflichtseminare nicht belegt werden, weil die zu wenigen Plätze per Los nur an einige gehen. Und so weiter.
  • Ja, es herrscht in diesen Tagen vielerorts Chaos an der Uni. Aber die gegenwärtigen Ausschläge des Unmutspendels sind nur die Entladung des allgemeinen Unmuts, der viele Studenten erfasst. Verunsicherung breitet sich aus, auch weil vielen die Kosten eh schon über den Kopf wachsen, sie nicht wissen, ob sie ihr Studium zu Ende bringen können oder wollen. Weil kaum einer wissen kann, wie es danach weiter geht. Das Chaos geht tiefer als der jetzige Protest. Es ist schon lange da. Jetzt wird es nur offenbar.

2. Apokalypse

  • Das 13. Kapitel des Markusevangeliums ist eine Apokalypse. Es ist ein Kapitel der Enthüllung der Wirklichkeit, ähnlich wie das große Buch der Apokalypse am Ende des Neuen Testamentes. Der Abschnitt der heutigen Lesung setzt ein, indem er zusammenfassend spricht von "der großen Not", die in den vorangehenden Versen des Kapitels geschildert wird. Jesus kündigt darin den Jüngern an, was zur Zeit der Abfassung des Markusevangeliums bittere Realität war. Krieg, Verwüstung des Tempels, Flucht aus Jerusalem - weh den Frauen, die in diesen Tagen schwanger sind!
  • Als sei die Realität noch nicht schlimm genug, zieht Jesus die Spur des Chaos weiter aus: Nicht nur die Ordnung des Staates und des Kultes, nicht nur die geregelte Ordnung des Alltags bricht zusammen. Kosmisch wird das Chaos. Die Welt fällt zurück in das Wirrwarr, bevor der Geist Gottes in der Schöpfung Land geformt hat, das Menschen leben lässt. Diese Ordnung wird zusammenbrechen. Die Gestirne verlieren ihre Orientierungskraft. All das, was als verlässliche Macht galt, wird erschüttert werden.
  • Mitten in diesem Untergang aber steht die Verheißung: Wenn all das Vertraute verfällt, strahlt das Erhoffte auf. Der Menschensohn, der am Kreuz in Ohnmacht und Elend hing, er erscheint in großer Macht und Herrlichkeit. Es wird enthüllt und offenbar, dass es richtig war, sich nicht von den Machthabern blenden zu lassen, sondern an den am Kreuz zu glauben. Am Ende der Zeiten erscheint Christus auf den Wolken des Himmels und die Engel Gottes führen aus der Zerstreuung alle zusammen, die als Geheimnis des Glaubens bekannt haben: "Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit."

3. Jetzt leben, jetzt handeln

  • An der Uni herrscht Chaos, und natürlich reicht das nicht an das Chaos heran, an den Greul der Verwüstung, den die Apokalypse im Markusevangelium schildert. Aber dennoch! Das Evangelium selbst fordert uns auf, unsere jeweilige Lebenssituation von dort her zu interpretieren und zu verstehen. So wie in der Schilderung des Evangeliums die ganze Ungerechtigkeit der Zeit sich Bahn bricht in apokalyptischen Verwüstungen bis hin zum Zusammenbruch der gesamten Ordnung des Kosmos, so müsste ein vom Evangelium geprägter Mensch sagen: Das nennst du Chaos? Warte ab, es kommt noch viel schlimmer, wenn erst der dünne Schleier der Ordnung zerreißt!
  • Apokalyptiker sind Hyper-Realisten, wenn es darum geht, Unrecht und Missstand zu sehen, bis zu den verborgenen Wurzeln. Christliche Apokalyptiker sind aber zu aller erst Optimisten, weil sie über den zusammenstürzenden Kräften des alten Himmels den Menschensohn kommen sehen, Gottes Macht und Gottes Herrlichkeit. Wer aus dem Evangelium lebt, kann sich unbeeindruckt zeigen vom lärmenden Chaos. Unsere Hoffnung geht darüber hinaus.
    Damit erklärt sich auch, warum Jesus in einem Atemzug sagen kann, dass all das unmittelbar bevorsteht - und dennoch kein Engel und kein Christus den Tag und die Stunde kennt. Jesus will, dass wir all dass erwarten, als stünde es unmittelbar bevor - und dass wir zugleich ganz realistisch in der Gegenwart das hier und jetzt Notwendige tun.
  • Das ist das Geheimnis des Glaubens. Das ist das Geheimnis derer, die aus dem Geist Christi leben. Sie erleben das Chaos in ihrer Welt nicht minder heftig als andere. Das Chaos an der Uni, das Chaos der Arbeitslosigkeit, der Chaos der eigenen Beziehungswelt und Gefühle, nicht minder heftig als andere. Aber sie können sich sagen: Das ist noch gar nichts. Selbst wenn sich die Sonne verfinstert und der Mond habe ich noch einen viel helleren Fixstern, der mir Orientierung gibt! Wenn andere resigniert sagen, es bringe doch nichts sich zu engagieren, könnten Christen aus ihrem Glauben sagen: Doch! Denn wann der große Knall kommt, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass wir mit jedem Schritt, mit jedem Widerstand gegen die Ungerechtigkeit, mit jeder kleinen Geste der Liebe dem entgegengehen, der da kommt: Christus, der Herr. Amen.