Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 31. Sonntag im Lesejahr C 2001 (Lukas)

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4. November 2001 - Dom St. Bartholomäus Frankfurt - Einführung als Hochschulpfarrer

1. Antiochien A.D. 64

  • In der großen Stadt Antiochien war im Herbst des Jahres 64 an einem Sonntag die christliche Gemeinde zusammengekommen. So zumindest will ich mir das einmal vorstellen. Man kommt im Haus eines Gemeindemitgliedes zusammen, um die Botschaft von Jesus Christus zu hören, Gott zu loben und Gott in der Feier des Brotbrechens zu danken. An diesem Sonntag nun - den meine Phantasie sich ausmalt - ist ein aus Jerusalem bedeutender Gast zu begrüßen. Dicht gedrängt sind daher die Christen im Atrium des Hauses versammelt. Es handelt sich um den mit über 60 Jahren nach damaligen Verhältnissen schon greisenhaft alten Zachäus. Voll Ehrfurcht wird der Gast behandelt, denn er ist ein Zeuge, der Jesus begegnet war.
  • Von daher wäre es nur natürlich gewesen, dass der Gast die Botschaft von Jesus Christus gesprochen hätte. Wo es Zeugen gab, war man noch nicht auf die Aufzeichnungen angewiesen, die jetzt zunehmend in Gebrauch kamen und die man später "Evangelien" nennen sollte. Hier also hätte der Zeuge Zachäus sprechen können. Aber der Gemeindevorsteher war ein dickköpfiger Mann, er wollte selbst aus einem Bericht vorlesen, den sein Freund Lukas aus verlässlicher Quelle übernommen hatte. Da saß nun der würdige Greis Zachäus, geachtetes Gemeindemitglied aus Jerusalem und Ehrengast, und musste sich Anspielungen auf seine geringe Körpergröße anhören. Er musste sich anhören, wie nicht vergessen war, dass er einst auf den Baum klettern musste, um Jesus zu sehen und wie Jesus ihn wie einen kleinen Jungen da oben auf dem Maulbeerfeigenbaum mit seinen ausladenden Ästen erwischt hatte. Ja, Zachäus musste sich anhören, dass er einer der schlimmsten Steuereintreiber gewesen war. Oberzöllner hatten sie ihn beschimpft.
  • Als all das vorgetragen wurde in Antiochien, über dreißig Jahre später, gab es nicht wenige im Raum, denen es peinlich war. Es kam ihnen unhöflich vor gegenüber dem Gast. Kann man einen alten und verdienten Mann so an seine Jugend erinnern? Zachäus selbst lag auf seiner Bank, ganz in sich versunken. Und wenn man genau hinsah, konnte man die Tränen in seinen Augen sehen. "Ja", sagte er leise, "so war es".

2. Auf dem Maulbeerfeigenbaum

  • Nicht aus Zufall erinnert sich die Tradition daran, dass Zachäus kleinwüchsig war. Denn die Körpergröße stand in auffälligem Kontrast zu seinem Gehabe und Lebensstil. Lange Zeit zumindest war Zachäus der kleine, korrupte, karriereversessene Zollpächter und Steuereintreiber gewesen. Aber tief in ihm drin muss damals schon etwas Größeres gewesen sein, sonst wäre er zu Hause geblieben. Sonst hätte der Schutz der großen Blättern des Maulbeerfeigenbaums ihm nicht gereicht, um sich neugierig vorzuwagen.
  • Der Mensch im Zollpächter Zachäus war nicht ganz verschüttet. Die Erinnerung daran, dass er als Kind des Volkes Gottes zu mehr berufen ist als Reichtum und Einfluss zu scheffeln und sich ein Leben in Luxus zu organisieren, diese Erinnerung muss noch da gewesen sein. Und so konnte der entscheidende Schritt seines Lebens sein, auf einen Baum zu klettern und Ausschau zu halten.
  • Der Glaube beginnt nicht damit, dass der Gläubige ein besserer Mensch wäre als andere. Er beginnt damit, dass ein Mensch aus der Enge eines platten Lebenskonzeptes, in dem nichts außer ihm selbst Platz hätte, aufsteigt, hinaufklettert, um Ausschau zu halten. Dann aber kann es ganz schnell gehen, wie bei Zachäus. Dort, auf dem Baum erreicht ihn der drängende Wunsch Jesu, bei ihm zu Gast zu sein. "Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein." Komm schnell, denn nicht morgen oder übermorgen, sondern heute will ich bei Dir zu Gast sein. Komm herunter und bleib nicht auf deinem Aussichtsbaum, auf deinem Elfenbeinturm.

3. Ausschau halten

  • Der greise Zachäus mag sich an diesen Anfang erinnert haben. Er wird daran zurückgedacht haben, dass damals in ihm die Neugier nach Größerem aufgebrochen ist. Er wird nicht vergessen haben, dass er mit all seinem Einfluss und Reichtum erst dann etwas anfangen konnte, als er gelernt hat, Ausschau zu halten. Die Tränen aber, die ich in den Augen des greisen Zachäus gesehen habe, spiegeln wieder, dass diese Begeisterung des Ausschau-Haltens wieder verschüttet werden kann. Zachäus wird in den Gesichtern der jungen Christen um ihn herum etwas von dem gesehen haben, was ihn selbst am Anfang begeistert hat.
  • In dieser erfundenen Szene sehe ich die Aufgabe eines Hochschulseelsorgers, auch wenn er sich noch nicht der Würde eines Greises rühmen kann. Wir Älteren sollen uns unserer ersten Begeisterung erinnern, um sie zusammen mit Studierenden heute wieder wach werden zu lassen. Gemeinsam lässt sich erfahren, dass es lohnt, Ausschau zu halten nach einer Welt, in der Gerechtigkeit nicht zur Phrase verkommen ist, in der nicht die Reichen reicher und die Armen ärmer werden und die vielen dazwischen die Perspektive für ihr Leben verloren haben.
  • Die Zeit an der Fachhochschule oder an der Uni ist nicht einfach eine Zwischenzeit, die man möglichst schnell mit einem Studienabschluss hinter sich bringt, um dann Karriere im richtigen Leben zu machen. Diese Zeit hat sich nur dann gelohnt, wenn ich in ihr Ausschau halte nach einem Leben, das diesen Namen verdient. Die Studenten- und die Hochschulgemeinde sollte dafür ein Ort sein.
    "Heute", sagt Jesus, "ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist." Dieses Heute kann unser heute sein, weil auch wir Töchter und Söhne Abrahams sind. Amen.