Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 28. Sonntag im Lesejahr C 2001 (Lukas)

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14. Oktober 2001 - St. Christopherus, Frankfurt

1. Katharsis

  • Wenn das Licht im Kinosaal wieder angeht, ist es überstanden. Spätestens dann. Was ist geblieben von den zwei Stunden, in denen wir Angst und Schrecken, Hoffnung, Niederlage und Sieg der Helden auf der Leinwand mit durchlebt haben? Was ist geblieben? Der große Philosoph Aristoteles wusste darauf die Antwort: Katharsis, zu deutsch: Reinigung(1). Aristoteles war der Ansicht, wer eine richtig gute Tragödie auf der Bühne miterlebt, kann dadurch Reinigung erfahren, Reinigung von seinen eigenen Leidenschaften. Das Erlebte wird gereinigt von dem, was das Leben belastet. Was unklar wird, wird klarer, was belastet ist, freier.
  • Was auf der Leinwand und der Bühne vorgeführt wird, soll an das eigene Leben erinnern. Denn dieselbe Frage stellt sich, was eigentlich bleibt, wenn ich als Einzelner oder wenn wir als Volk eine Tragödie durchlebt haben. Wie hat der Schrecken vom 11. September 2001 die Stadt New York verändert? Was hat es bewirkt, dass sich das deutsche Volk, spät und spärlich genug, der Schrecken von Auschwitz und Warschau erinnerte? Wie geht es weiter, wenn ich selbst eine schwere Krankheit durchlitten habe oder jemand in meiner Familie dies musste?
  • Das Vergessen ist oft eine unwillkürliche Reaktion auf vergangenen Schrecken, zumal wenn die Ereignisse mit eigener Schuld durchwirkt waren. Aber nicht ganz zu unrecht hat die Psychoanalyse versucht, dieses Vergessen zu durchbrechen, wenn dadurch der Mensch krank wird an der verdrängten Vergangenheit.

2. Zehn Aussätzige

  • Die Begegnung Jesu mit den zehn Aussätzigen gehört zu seinem Weg nach Jerusalem. Dort erfüllt sich der Weg, auf dem das Reich Gottes kommen soll. Auf diesem Weg, irgendwo im Grenzland, wird Jesus von zehn Männern angerufen, die sich keinem Gesunden nähern dürfen, weil ihre Krankheit ansteckend ist. Sie rufen: Meister, erbarme dich unser.
  • Die Heilung geschieht so unspektakulär wie nur denkbar. Jesus schickt sie zu den Priestern, dem damaligen Gesundheitsamt. Auf dem Weg dorthin, so heißt es, wurden sie rein. Katharsis ist das griechische Wort, das hier steht, Reinigung. Damit haben sie erreicht, was sie wollten. Sie sind gesund.
  • Einer nur, ein Fremdländischer zumal, lässt es nicht dabei bewenden. Er stimmt ein Lob Gottes an. Dieses Lob Gottes wird sichtbar, indem er zu Jesus zurückkehrt und in ihm den Gott lobt, der ihn geheilt hat. Zu diesem einen sagt Jesus: "Dein Glaube hat dir geholfen!", und: "Steh auf und geh!". Bei diesem einen von zehn ist mehr passiert als nur das rein werden. Der eine hat Glauben gefunden.

3. Eucharistie

  • Das Wunder der Heilung von zehn Aussätzigen hat nicht automatisch mit Glauben zu tun. Die Heilung geschieht gleichsam nebenbei. Die Heilung des kranken Leibes kann zu Glauben führen und damit den Menschen verändern. Im vorliegenden Fall ist dies nur in einem von zehn Fällen so gewesen. Es ist also nicht selbstverständlich. Die neun, die nicht zurück gekommen sind, haben wohl einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit gezogen - und damit verhindert, dass die Reinigung auch das Herz erreicht. Bei diesen neun ist die Reinigung oberflächlich geblieben; eine Katharsis des Herzens hat nicht stattgefunden.
  • Der jüdisch-christliche Glauben kennt und hält fest an der Kraft der Erinnerung. Die Menschen der Bibel zeigen uns, dass das Ganze des Lebens, die Höhen und Tiefen, in die Geschichte des Menschen mit Gott hinein gehört. Den Weg, auch den Weg nach Jerusalem, können wir nur gehen, wenn wir nicht bei jedem Wegabschnitt vergessen, was hinter uns liegt.
  • Der Schlüssel zur Erinnerung heißt Dankbarkeit. Der eine Geheilte, der umkehrt, ist einer, der aus dem Glauben lebt. Indem er Gott lobt, dankt er für die Heilung. Im Griechischen steht hier das Wort "danken", von dem die Feier ihren Namen hat, die uns am Sonntag zusammenführt: Eucharistie. Indem der Geheilte Jesus zu Füßen fällt, drückt er mit seinem ganzen Körper aus, dass dieser Dank sein Herz erreicht hat. Aus der Reinigung der Haut vom Aussatz ist die Katharsis des Herzens geworden. Indem Jesus ihn schickt: "Steh auf und geh! Dein Glaube hat dir geholfen.", geschieht dem Geheilten das, was auch uns geschieht. Am Ende der Eucharistiefeier werden wir in das Leben hinaus geschickt. Aus der Erinnerung wird Dank und Sendung. Daher schließt die Messe mit den Worten: "Gehet hin in Frieden". Amen.

Anmerkung

1. "Die Tragödie ... im Durchgang durch Jammer und Schauer schließlich eine Reinigung von derartigen Leidenschaften (Genitiv) bewirkend." Poetik 6,1449b 24-27. Der Genitiv kann übersetzt werden "Reinigung von den Leidenschaften", Reinigung der Leidenschaften" oder "von den Leidenschaften ausgehende Reinigung". Mir scheint, man sollte die drei Übersetzungsmöglichkeiten nicht gegeneinander ausspielen.