Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 23. Sonntag im Lesejahr C 2022 (Psalm 90)

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4. September 2022 - St. Peter, Sinzig

1. Psalm

  • Die Psalmen waren das Gebetbuch Jesu. Das allein sollte genügen, dass Christen sich für diese Sammlung von 150 Liedern und Gebeten interessieren. Sie sind sicher mindestens über ein Jahrtausend hinweg entstanden und damit ein einzigartiger Gebetsschatz. In – nahezu – allen Konfessionen spielen sie eine wichtige Rolle. Bei den Katholiken bilden sie den Kern des Gebetbuches der Priester.
  • Luther hat sie übersetzt und in die Gemeinde gebracht. Auch bei uns bilden sie – eigentlich – zusammen mit der Lesung aus dem Alten Testament, einer Lesung aus dem Neuen Testament und dem Evangelium die erste Hälfte unserer Sonntagseucharistie. Eigentlich sage ich, weil sie allzu oft weggelassen oder durch ein beliebiges Lied ersetzt werden.
  • Ich verstehe das, weil die Psalmen anspruchsvoll sind. Es gibt Gebete, die sich leichter beten. Sie sind oft zeitgemäßer. – Aber das ist auch das Problem. Denn unser Glaube wird individualistisch und beliebig, wenn er aus der doppelten Verbundenheit herausfällt: Aus der weltweiten Gemeinschaft der Kirche, die aus allen Getauften besteht, und aus der Verbundenheit über die Zeiten, Kulturen und Grenzen hinweg.
    Deswegen möchte ich heute versuchen, zumindest ansatzweise einen Zugang zum Psalm des Tages zu versuchen, dem Psalm 90. In unserem Gesangbuch, dem Gotteslob, steht er unter der Nummer 50, im evangelischen EG unter 735.

2. Beten

  • Psalmen sollte man nicht lesen, sondern beten. Beten bedeutet: Mein Leben in Beziehung zu Gott setzen. Oder: Mein Vertrauen in Gott vor Gott bringen – mit allen Nöten, Zweifeln, Fragen. Wer die Psalmen kennt weiß: Vor Gott muss ich meine Gefühle nicht filtern. Ihm darf ich sogar meinen Hass und meine Rachegelüste anvertrauen. Ja, ich soll sie ihm sogar anvertrauen, denn bei uns sind sie in schlechten Händen.
  • Nehmen Sie daher einen Psalm daheim in einem guten Augenblick. Beginnen Sie, indem Sie sich auf das Gebet einstellen, etwa durch ein Kreuzzeichen, eine Kerze oder sonst etwas, das Ihnen dazu hilft. Dann können Sie entweder direkt versuchen, für Ihr Gebet die Worte des Psalms zu nehmen. Oder Sie stellen sich jemand anders vor, der oder die ihn betet. Das kann auch Jesus sein: Wie klingt für mich der Psalm als Gebet Jesu zum Vater?
    Es kann der ganze Psalm in seiner Dynamik sein. Es kann aber auch einfach nur ein Vers sein. Ich kann ihn ruhig vom Anfang zum Ende innerlich oder leise sprechen. Oder ich beginne mit dem ersten Vers, bleibe bei ihm, um zu sehen, wie er schmeckt, was er in mir auslöst – und gehe nach einer Weile weiter bis zum Ende der Zeit, die ich mir für das Gebet vorgenommen habe. Es geht weder um Vollständigkeit noch um Richtigkeit – sondern um mich und Gott.
  • Vielleicht ist am Anfang, in der Mitte oder am Ende des Psalms ein Gedanke, der mich festhält, weil er mich anzieht oder abstößt, zum Nachdenken bringt oder fragend hinterlässt. Dann nehme ich diesen Gedanken, diesen Vers und spüre nach, wie er im Lauf des Psalms entsteht und wohin er führt. Nochmal: Wie sind nicht in der Schule bei der Textanalyse, sondern lassen uns helfen in unserer ganz persönlichen Beziehung zu Gott.

3.  Psalm 90

  • Beim Beten hilft es, zu schauen, was ich eigentlich will. Das sollte das erste sein. Danach kann ich immer noch schauen, wie sich mein Fühlen, Denken und Wollen verändert, wenn ich es vor Gott bringe. So gesehen finde ich im Psalm 90 viel Verunsicherung.
    Das Leben geht dahin. Generationen gab es vor uns. Generationen kommen. Wie Gras, das gemäht wird, und anderes wächst wieder. Wir mühen uns ab – was bleibt? Gottes Zorn? Das ist doch die Erfahrung, dass wir inmitten von alldem die Beziehung zu Gott nicht mehr spüren. Allein gelassen sind. Vor Gott hilft es nicht zu leugnen: Mein Leben ist alles andere als gelungen.
  • Doch wie war der Einstieg? Gott, "du warst unsere Zuflucht". Zuflucht, Heimat, Versteck, Zuhause. Ein Ort an dem wir uns sicher fühlen konnten, von Generation zu Generation. War das alles nur Illusion, weil meine Eltern, Großeltern, die Kultur vor uns und ich früher dümmer oder naiver war als heute? Oder hatten nicht doch diese Menschen früher eine Weisheit, die mindestens so wichtig ist wie alles, was wir gerne Fortschritt genannt haben und was uns jetzt vor die Füße fällt?
  • Was will ich? Wer immer den Psalm zuerst geschrieben hat oder wer neue, andere Erfahrungen in dieses Gebet eingetragen hat: Vers 13 sagt es. "Unsre Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz." Tage zählen heißt: Jeden einzelnen. Die Zeiten mögen verfliegen, Generation um Generation. Die Weisheit des Herzens zählt jeden einzelnen. Kein Abend sollte sein, ohne dass ich diesen Tag dankbar anschaue und ihn Gott in einem Gebet anvertraue.
  • So befremdlich vielleicht das Wort, vom Zorn oder Grimm Gottes sein mag: Es ist richtig, selbst das Unheil eines Tages unter der Rücksicht anzuschauen, wie Gott mir darin begegnet als der, der mir Kraft gibt. Kann ich jemanden vertrauen, wenn ich einmal seinen Zorn erlebt habe? Vielleicht, wenn ich dahinter die Liebe zur Gerechtigkeit entdecke? Auch wenn ich über diesen "Grimm Gottes" klage: Im Blick auf den nächsten Tag bete ich "Sättige uns am Morgen mit deiner Huld!"
  • Der Psalm 90 liefert keine 'Antwort'. Warum die Vergänglichkeit des Menschen? Warum das Unheil? Was zählt ein einzelner Mensch vor der unendlichen Größe Gottes? Warum müssen wir sterben? Was würde eine schöne theologische Antwort bringen? Am Ende muss das Leben gelebt werden, Tag für Tag. Dafür, Gott, schenke uns die Weisheit des Herzens. Tag für Tag neu das Vertrauen zu suchen: Gott, Du bist meine Zuflucht, mein Zuhause, der Ort, wo ich leben kann. Amen.