Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 23. Sonntag im Lesejahr B 1994 (Jakobusbrief)

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4. September 1994 - St. Bartholomäus-Dom, Frankfurt/Main

1. Wahrnehmung

  • Wie kann ich gut leben? Es ist bei weitem leichter, zu wissen, was richtig ist, denn dies auch zu tun.
    Das hat natürlich Gründe im Individuellen: Ich muss die Kraft entwickeln, mein Leben an meine Überzeugungen anzupassen und nicht umgekehrt. Die Schwierigkeit, nicht nur zu wissen, was richtig ist, sondern auch danach zu leben, rührt aber auch an weitere, strukturelle Ursachen: Ich bin verwickelt in Zusammenhänge, die Ergebnisse hervorbringen, die ich nicht anders als ungerecht bezeichnen kann. Ich lebe in einer Kultur und Umgebung, die mir - zumindest in einzelnen Punkten - nicht hilft, mich vielmehr hindert, entsprechend meiner Überzeugung zu leben. Ich bin ein Teil von etwas, das mir als "ungerecht" vorkommt. Ich bin nicht seine letzte Ursache, nicht entscheidend. Aber es bleibt ein: Irgendwie hat das mit mir zu tun.
  • Der Jakobusbrief schildert eine Szene aus der Kirche: Wenn in unsere Versammlung ein vornehmer, reich gekleideter Mann kommt, dann wird er auf den Ehrenplatz gesetzt; wenn ein armer in schmutziger Kleidung kommt, erhält er seinen Stehplatz irgendwo da hinten.
    Ich erkenne in dieser Schilderung nicht nur meine Kirche wieder, sondern auch meine eigenen spontanen Reaktionen. Ich erkenne in der Schilderung meine eigene Wahrnehmung wieder: was und wen ich für wichtig halte, meiner Aufmerksamkeit wert - und wen ich bestenfalls für wert halte, mein Mitleid zu erregen.
  • Ich kenne keine Lösung. Ich weiß, dass diese Differenz in meiner Wahrnehmung nicht richtig ist. Ich erkenne, dass diese Wahrnehmung geprägt ist von einer Gesellschaft, die längst entschieden hat, wie ein Mensch aussieht, der den ersten Platz bekommt, und wie ein solcher, der auf die hinteren Ränge verwiesen wird. Ich weiß, dass meine Wahrnehmung von dieser gesellschaftlichen Ungerechtigkeit geprägt ist, ich weiß, dass schon in meiner Wahrnehmung Unrecht liegt, weil sie der gleichen Würde des Menschen Unrecht tut - und doch kann ich dem nicht wehren.

2. Freiräume

  • Der Jakobusbrief erinnert uns daran, dass die gesellschaftliche Stellung der Armen ein Thema für die Kirche ist. Er erinnert uns daran, dass dieses Thema ans Zentrum des Glaubens rührt, an die Auserwählung der Armen durch Gott. Der Brief erinnert uns daran, dass wir die Frage nie ad acta legen können: Wie unsere Kirche aussehen muss, damit sie dieses Schriftwort ernst meint. Die Frage muss gar nicht sein, alle Probleme zu lösen, die mit Armut und Diskriminierung zu tun haben. Es würde schon mal reichen, sich um kleine Schritte zu sorgen, die in die richtige Richtung führen.
  • Es ist im Johannesevangelium und mehr noch in den Johannesbriefen ein wiederkehrendes Thema: Lasst euch nicht durch die Welt beflecken. Damit ist genau die eben angeschnittene Frage gemeint, nicht mönchische Askese und Weltabgewandtheit. Diese Aufforderung nimmt zur Kenntnis, dass wir in dieser Welt leben, genauso wie Christus in eben diese Welt gekommen ist. Diese Welt eignet aber nicht als Maßstab.
  • Dieses sich nicht beflecken lassen ist allgemein ausgedrückt, was der Jakobusbrief in der heutigen Lesung formuliert: "Haltet den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus frei von jedem Ansehen der Person." Der Glaube soll ein Freiraum sein, frei von den Gesetzmäßigkeiten einer Welt, die vorwiegend in den Kategorien von bedeutend/unbedeutend oder reich/arm denkt.

3. Eucharistie

  • Wir müssen bei diesem Vorhaben nicht bei Null anfangen. Den wichtigsten Freiraum nämlich schafft Gott selbst: Das Brot der Eucharistie, in dem er sich selbst dem Menschen in die Hände legt, hat die Differenz gesellschaftlicher Stellung bereits überwunden. Das geschieht bezeichnenderweise nicht (nur) dadurch, wie Gott andere behandelt. Es ist nicht allein, dass Gott regnen lässt über Arme und Reiche. Vielmehr ist Gott, die Heilige Schrift betont das immer wieder, selbst arm geworden, um uns zu beschenken. Er, der reiche Gott, hat die Schwelle selbst übertreten.
  • Der Jakobusbrief benennt den Punkt, an dem diese Tat Gottes für uns gegenwärtig wird. Den Gottesdienst schildert die Lesung als den Raum, in dem es uns gelingen muss, alternative Umgangsformen zu entwickeln. Inmitten einer Welt, inmitten einer Stadt, in der Kaufkraft zum wichtigsten Kriterium geworden ist, haben wir durch die Weise, wie wir quer über alle sozialen und ethnischen Unterschiede miteinander Gottesdienst feiern, die Chance, "uns nicht beflecken zu lassen", uns von Gott mit einem Freiraum beschenken zu lassen durch einen anderen Umgang mit einander.
  • Dieser Freiraum könnte der Beginn einer erneuerten Kirche sein, die die Armen mit den Augen Gottes sieht. Meine Wahrnehmung hat hier die Chance umgebildet, erneuert und befreit zu werden von dem Unterschiedsdenken, mit dem Diskriminierung schon in meinem Kopf beginnt. Dann steigt die Chance, das mein Wunsch, gerecht handeln zu wollen, auch etwas mehr Wirklichkeit wird, weil meine Augen hier, im Raum Gottes lernen, mit den Augen Gottes zu sehen: voll Achtung für sein Geschöpf. Amen.