Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 23. Sonntag im Lesejahr A 2011 (Matthäus)

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04. September 2011 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

1. Grenzen der Gemeinderegel nach Matthäus

  • Öffentlichkeit ist das übergreifende Thema, zu dem das Matthäus-Evangelium drei Jesus-Überlieferungen zusammen gestellt hat. Ausgangspunkt ist, dass ein Christ an einem anderen schuldig geworden ist. (Zwar fehlt in frühen Ägyptischen Textfunden das "gegen dich"; das aber dürfte eine nachträgliche Angleichung an Lukas 17,3 sein; die Einheitsübersetzung ergänzt in der Fußnote: "Wenn dein Bruder gegen dich sündigt...") Der erste Schritt ist, die Ungerechtigkeit gegenüber dem Täter anzusprechen; manchmal mag das schon Erfolg zeitigen. Sonst sind Zeugen hinzu zu ziehen oder gar die Tat vor der Gemeinde öffentlich zu machen.
    (Daran fügt das Evangelium die zwei Jesu-Worte an: Eines, mit dem Jesus sozusagen die Öffentlichkeit dieses Verfahrens auf Erden auch im Himmel verbürgt; das andere, in dem Jesus seine Gegenwart in der Gemeinde zusagt, wenn diese im Geist Gottes versammelt ist.)
  • Nichts wird darüber gesagt, worin der eine Christ gegenüber dem anderen schuldig geworden ist. Die Tat steht hier gar nicht zur Debatte. Vielmehr gibt Jesus Hinweise, wie es in einer Gemeinde gelingen kann, den Täter zu retten, indem er seine Schuld einsieht, bereut und sich bessert. Es dürfte kein Zufall sein, dass in der Geschichte dieses Evangelium vor allem in Ordensgemeinschaften und in kleinen kirchlichen Gruppen direkt aufgenommen wurde (vor allem in den aus der Täuferbewegung hervorgegangenen Kirchen). Für eine in der Gesellschaft verankerte Großkirche scheint das Verfahren nicht geeignet zu sein.
  • Die Auseinandersetzung mit dem Thema sexueller Gewalt gegen Kinder in der Kirche, anderen Institutionen und vor allem den Familie macht uns auf die Grenzen dieser Evangeliumsregel aufmerksam.
    Denn erstens ist hier vorausgesetzt, dass sich die beiden auf Augenhöhe begegnen. Nur dann wäre es dem Opfer möglich, den Täter zur Rede zu stellen. Wenn die Tat aber im Zusammenhang mit Abhängigkeit und psychisch-erniedrigender Gewalt steht, funktioniert das nicht mehr.
    Ebenso verhält es sich zweitens mit der Chance, die Tat in der Gemeinde öffentlich zu machen. Denn häufig richtet sich zwar die Gewalt gegen einzelne Opfer. Die Täter aber verstehen es meisterlich, die ganze Umgebung des Opfers zu beeinflussen. Manche machen sich besonders beliebt, andere machen sich besonders gefürchtet; immer geht es darum zu verhindern, dass in der Gruppe oder Familie gesehen, erkannt oder gar ausgesprochen wird, was da geschieht: Dass nämlich einer Gewalt ausübt gegenüber Schwächeren oder gar Kindern.

2. Mechanismen der sexualisierten Gewalt

  • Wichtig ist mir, dass Jesus das Opfer ermutigt zu sprechen. "Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann geh zu ihm und stell ihn unter vier Augen zur Rede." Wenn wir wissen, dass es Situationen gibt, in denen das dem Opfer nicht möglich ist, dann bedeutet das: Die Gemeinschaft hat Verantwortung dafür, dem Opfer der Gewalt die Möglichkeit zu geben, zu sagen, was es erlebt hat. Von außen ist kaum zu erahnen, mit wie perfide Menschen, die krankhaft anderen, zumal Kindern, Gewalt antun, diesen den Mund stopfen. Sie reden den Kindern ein, dass sie selbst schuldig geworden seinen; sie pflanzen in die Seelen eine Scham ein, die oft auf Jahrzehnte sprachlos macht.
  • In der katholischen Kirche können sich Täter dabei einer als katholisch geltenden Moral bedienen. Gerade wo Priester die Täter sind, kommt die besondere Autorität des Amtes hinzu. Dies ist sozusagen die spezifisch katholische Variante, Kinder zu gefügigen Opfern zu machen. Wir wissen aber, dass es in nahezu jedem Milieu eigene Mechanismen gibt. Nicht zufällig standen seit letztem Jahr die furchtbaren Vorfälle an der Odenwaldschule ebenso im Rampenlicht, weil dort mit der Reformpädagogik geradezu das Gegenteil des Katholischen Leitlinie war. Dass dort der Schulleiter und eine ganze Gruppe von Lehrern über Jahrzehnte freies Spiel hatten, konnte nur gelingen, weil es eben auch in der betont liberalen und fortschrittlichen Atmosphäre möglich ist, nicht nur den Körper von Kindern zu missbrauchen, sondern sie auch psychisch so unter die Gewalt zu beugen, dass sie lange nicht so sprechen konnten, dass sie gehört wurden, und verstanden wurde, was diese Menschen erlitten haben.
  • Das heutige Evangelium ist der Aufruf an Christen, sich weiter mit diesem Thema zu beschäftigen. Im März diesen Jahres ist das Buch "Sündenfall" von Christian Füller erschienen, das wie kein anderes beschreibt, wie es möglich ist, dass an einer anerkannten Institution so viel Gewalt an Kindern verübt wurde, und warum weder die Schulträger, noch die Presse, die seit langem davon wusste, noch die Elite der deutschen Bildungsforscher und -politiker, und noch nicht einmal Eltern, die von den Taten wussten, den Kindern zu Hilfe gekommen sind. Ich empfehle dieses Buch, obwohl oder gerade weil es nicht von einer katholischen Schule und nicht vom "katholischen Milieu" handelt, denn es ist nicht nur sehr erhellend in der Detailschilderung; die geschilderten Mechanismen, wie es den Opfern an der Odenwaldschule ergangen ist, und wie die Gruppen und Institutionen darauf reagiert haben, helfen uns sehr, diese Mechanismen auch bei uns wiederzuerkennen.

3. Als Gemeinschaft das Kreuz des Hörens tragen

  • "Wenn dein Bruder gegen dich sündigt", dann hast du das Recht, das auszusprechen. Das Evangelium hat dabei Situationen im Blick, in denen Umkehr und Besserung möglich ist. Jesus weiß aber auch, dass das nicht immer möglich ist. Nicht nur, dass der heutige Abschnitt ja auch mit dem Fall rechnet, dass jemand aus der Gemeinde ausgeschlossen wird. Wenige Verse zuvor überliefert das Matthäusevangelium noch ein anderes Wort Jesu, das ich nur auf Kindesmissbrauch beziehen kann, weil seine Schärfe sonst kaum nachvollziehbar wäre: "Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde." Dies hat Konsequenzen für uns. Wer Angesichts von Gewalt gegen Kinder, zumal durch Priester, abschwächt, dieser habe doch nicht nur Schlechtes getan, der macht sich mitschuldig, weil er dem ausweicht, wozu wir als Erstes verpflichtet sind: dem Opfer zuzuhören und es ernst nehmen.
  • Das ist kein billiger Appell. Vielmehr bin ich der Überzeugung, dass dies ein notwendiger, mühseliger und langer Weg ist. Denn jedem von uns, mich eingeschlossen, fällt es schwer, zuzuhören, wenn von Menschen davon berichten wollen, wie ihre Seele verletzt und ihr Körper missbraucht worden ist. Hier geht es nicht nur um Strukturreformen, sondern auch um Bekehrung. Instinktiv sucht jeder von uns letztlich doch eine heile Welt und wehrt sich dagegen, dass die Umgebung, die uns vertraut ist, und das Ansehen von Menschen, den wir meinten vertrauen zu können, beschädigt wird. Auch wenn keiner von uns das Kreuz vertuschen wollte; es braucht eine innere Kraft und Bereitschaft, hinzuschauen.
    Auch in dieser Gemeinde hat es das gegeben. Von den siebziger bis in die achtziger Jahre war ein Priester hier Pfarrer, der vielfach schwer verletzend war gegenüber anderen. Mittlerweile wissen wir, dass er auch gegenüber Kindern übergriffig wurde; seit letztem Jahr ist er deswegen suspendiert. Aber ebenso wie der verantwortliche Bischof haben auch viele in der Gemeinde letztlich weggeschaut oder sind weggegangen, weil es derselbe Pfarrer doch geschafft hatte, viele andere für sich zu begeistern. Wie viele Mitchristen durch ihn aus der Kirche herausgedrängt wurden, weil er sie psychisch unter Druck gesetzt hat, ahne ich nur; ich weiß es jedoch von Einzelnen. Wie vielen Kindern er den Glauben an Gott zerstört hat, weil er sie mit unangemessenen Themen bedrängt, und manche von ihm auch berührt und verletzt wurden, das werden wir nie wissen. Wir können aber zusammen daraus lernen, künftig nicht zu schweigen, wenn wir sehen, dass in der Kirche, in der Familie oder sonstwo jemand andere psychisch unter Druck setzt, Abhängigkeiten aufbaut und Grenzen überschreitet.
  • Hinsehen und Hinhören ist ein echte Aufgabe. Dem Satz aus dem Evangelium "sag es der Gemeinde" muss jedoch eine Gemeinde entsprechen, die bereit ist zu hören. Die Verheißung Jesu gilt nur denen, die ihn als den Gekreuzigten kennen und die bereit sind, den Gekreuzigten zu sehen: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen." Eine solche Gemeinschaft riskiert, selbst in Verdacht zu geraten, verleumdet zu werden, beschädigt vor dieser Welt daraus hervorzugehen. Um wie viel mehr aber wiegt, wenn Menschen, denen Unrecht geschehen ist, frei werden können, und so Jesus selbst mitten unter uns ist. Amen.