Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 23. Sonntag im Lesejahr A 2002 (Matthäus)

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8. September 2002 - Universitätsgottesdienst, St. Ignatius Frankfurt

1. Der 11. September 2001

  • "Warum hassen sie uns so?". Wer unter den Deutschen in den tschechischen und polnischen Gebieten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sich diese Frage gestellt hat, hat am eigenen Leibe oft Grausames erlitten. Zivilisten wurden misshandelt, interniert, vertrieben. Unzählige haben ihr Leben gelassen. "Warum hassen sie uns so?", diese Frage haben sich all die gestellt, die - oft sicher zu Recht - überzeugt waren, nicht mitschuldig gewesen zu sein an Nazi-Terror und Wehrmacht-Gewalt.
    Eben dieselbe Frage haben viele US-Amerikaner aufrichtig fassungslos nach dem 11. September 2001 gestellt: "Warum hassen sie uns so?". Gerade weil in den USA die Kenntnis über Außenpolitik und andere Länder vielfach gegen Null geht, hat sie der Hass fassungslos gemacht, der in den terroristischen Verbrechen von New York und Washington zum Ausbruch kam.
  • Es gibt einen Grund für den Hass dieser terroristischenVerbrecher vom 11. September. Dieser Grund lässt ihre Schuld nicht geringer werden, aber es ist essenziell nach dem Grund zu fragen. In den seltensten Fällen trifft das Unheil der Gewalt Menschen und Staaten ohne Grund. Es ist allerdings zu Recht bedenklich, über diesen Grund zu reden, weil man dann in Verdacht gerät, das Verbrechen nachträglich zu legitimieren.
  • Die Lesung aus dem Buch Ezechiel kann verständlicher werden auf dem Hintergrund dieser aktuellen Themen. Vielleicht kann sie sogar nur verstanden werden, wenn man sich klar macht, dass für die Menschen damals die Fragen mindestens so akut waren wie die eben in Bezug auf den 11. September gestellten.

2. Das Unheil

  • Eines muss ganz klar gesagt werden: "So wahr ich lebe - Spruch Gottes, des Herrn -, ich habe kein Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern daran, dass er auf seinem Weg umkehrt und am Leben bleibt." (Ez 33,11) Ganz ähnlich steht es schon einige Kapitel früher im Buch Ezechiel: "Ich habe doch kein Gefallen am Tod dessen, der sterben muss - Spruch Gottes, des Herrn. Kehrt um, damit ihr am Leben bleibt." (Ez 18,32). Gott will das Unheil nicht, das über Menschen kommt. Aber Gott verschließt nicht aus lauter Staatsräson die Augen vor den tieferen Ursachen. Es ist Schuld, die Schuld gebiert. Wenn der Herr den Propheten auftreten lässt und das kommende Unheil ankündigen lässt, dann geht die Bibel sogar so weit, Gott wolle gleichzeitig das strafende Unheil nicht und doch sei er es, der es verursacht.
  • Gott will den Terrorismus nicht. Gott will nicht, dass Flugzeuge zu ferngesteuerten Bomben auf Hochhäuser werden. Gott wollte genauso wenig damals, dass die Gewalt des babylonischen Staates über sein geliebtes Volk Israel hereinbricht. Bis zuletzt hofft Gott, dass sein Wort gehört wird, seine Gerechtigkeit angenommen wird, seine Propheten das Volk und die Verantwortlichen aufrütteln, damit sie sehen, was kommt, und jetzt handeln.
  • Das Unheil, das über das World Trade Center gekommen ist, hätte man sehen können.
    Wenn die USA nicht in den achtziger Jahren dazu beigetragen hätten, das Terrornetzwerk in Afghanistan aufzubauen, um die Sowjetunion zu treffen, wenn sie den Irak nicht ein Jahrzehnt lang aufgerüstet hätten, um den Erzfeind Iran anzugreifen in einem Krieg mit millionenfachem Tod, ja, wenn die USA nicht konsequent den Terrorismus ignorieren, der von ihren Verbündeten begangen wird, und wenn die US-Geheimdienste sich nicht immer wieder dazu hergäben, selbst Unrecht im Namen der freien Welt zu begehen, dann wäre es - vielleicht - zu diesem 11. September nicht gekommen.
    Die westliche Welt, wir eingeschlossen, haben nicht hingesehen und nicht hingehört. Weil wir die Toten in den islamischen Ländern nicht gesehen haben, traf uns das Unheil unvermittelt. Nichts anderes sagt der Prophet Ezechiel seinem Volk: Weil ihr die Opfer eurer Ungerechtigkeit nicht gesehen habt, trifft euch das Unheil. Und nun, sagst du: "Das Verhalten des Herrn ist nicht richtig?" (Ez 18,25 u.ö.)

3. Warnung und Umkehr

  • Angesichts des Leides der Opfer sind uns durch die Bibel zwei Wege versperrt: Der Weg der Rache und der Weg der Unschuldsrhetorik. Ein Weg nur ist offen: Erkenntnis und Umkehr.
    • Den Weg der Rache versperrt Gott, wenn er es sich allein vorbehält Rache zu üben. Das anstößige Wort steht im Römerbrief "Rächt euch nicht selber, sondern lasst Raum für den Zorn (Gottes); denn in der Schrift steht: Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr." (Röm 12,19). Zu Unrecht ist dieses Wort missdeutet worden zum Bild eines Rachegottes. Es ist ein Wort der Befreiung von der Rache.(1)
    • Den Weg der Unschuldsrhetorik versperrt Gott durch die Propheten, die das von Gottes Volk selbst begangene Unheil anprangern. "Madeleine Albright (die damalige US-amerikanische Außenministerin), die im öffentlichen Fernsehen gefragt wurde, was sie von den Schätzungen halte, denen zufolge aufgrund der amerikanischen Sanktionspolitik eine halbe Millionen Kinder im Irak sterben müssten, (meinte) das sei zwar hart, »aber wir glauben, es ist den Preis wert".(2) Es gab damals und es gibt auch heute Propheten, die dieses so gar nicht verschämte Unrecht aufdecken und anprangern, aber wer hört sie?
  • Ein Weg nur ist offen: Erkenntnis und Umkehr.
    • Erkenntnis bedarf das Wort derer, denen Gott die Augen öffnet.
    • Umkehr bedarf eines Volkes, das bereit ist zu hören.
    • Hören aber, dort wo es unangenehm ist, können Menschen nur, wenn sie sich nicht selbst zu Herren und Richtern der Welt machen, sondern einen Gott erkennen, der Herr des Lebens ist.
    • Wenn die Propheten sehen und dennoch schweigen, mögen sie dem Zorn der Menschen entgehen. Sie sind aber mitschuldig am Tod, den das Unrecht gebiert. Hören bedeutet hinhören auf das Leid der Opfer, auch dort, wo sie in den Nachrichten nur als anonyme Zahl ("eine halbe Millionen Zivilisten im Irak") und unter ferner liefen und in den Zeitungen auf den hinteren Seiten gemeldet werden.
  • Es ist ein hartes Wort, das uns die Heilige Schrift drei Tage vor dem 11. September sagt. Kein Wort der Schrift aber ist hart um zu vernichten. Vielmehr liegt darin allein auch die Hoffnung und die Chance. Wenn wir uns davon anrühren lassen und wenn wir beginnen aufmerksam zu werden, besteht die Chance, dass wir - der Westen - nicht weiter Unrecht mit Unrecht beantworten. Es gibt Gelegenheit umzukehren. Die Aufmerksamkeit, die wir dem unter uns lebenden Flüchtling aus Palästina oder Afghanistan schenken, ihm zuhören, wenn er von seinem Leid erzählt, ist Umkehr. Der Leserbrief den wir schreiben, die Frage an Kandidaten zur Bundestagswahl, die wir stellen, ja schon der aufmerksame Blick auf die hinteren Seiten der Zeitung kann der Beginn von Umkehr sein. Gott will, dass wir leben. Wollen wir es? Amen.