Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt 2. Adventssonntag Lesejahr B 2011 (2. Petrusbrief)

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4. Dezember 2011 - Kleiner Michel (St. Ansgar), Hamburg

Der Film Perfect Sense (2011) von David Mackenzie mit Ewan McGregor und Eva Green Perfect Sense (2011) von David Mackenzie mit Ewan McGregor und Eva Green ist ein ganz ungewöhnlicher Weltuntergangsfilm. Es fehlt nahezu alles, was dieses Genre bestimmt. Eine Seuche verbreitet sich blitzschnell, die zunächst nichts anderes bewirkt, als das Menschen von einem Augenblick zum nächsten ihren Geruchssinn verlieren. Der junge Starkoch Michael wird in einer Szene vorgestellt, in der er eine Frau nach hause schickt, weil er neben einem anderen Menschen nicht schlafen könne. Man ahnt, dass er dabei sich selbst im Wege steht. Alle Sinnlichkeit kann nicht über die tiefe Distanz hinwegtäuschen.

1. Unperfekte Sinne

  • Von unserem Geruchssinn, belehrt uns eine Theorie, hinge wesentlich unsere Partnerwahl ab. Die Natur habe es so eingerichtet, dass wir uns in die Partnerin oder den Partner nach dem idealen genetischen Code verlieben. Das ist ernüchternd, ist dies doch die persönlichste aller Entscheidungen. Bin ich etwa identisch mit meinem genetischen Code? Vom Geschmackssinn wissen wir, dass er stark sozial bestimmt ist und vor allem etwas über unsere Sozialisation aussagt. Ob die Stimme, die wir voneinander hören oder der Anblick, mit dem wir uns sehen, etwas davon aussagt, wer wir wirklich sind, wird immer auch fraglich bleiben.
  • Noch nicht einmal ich selbst kenne mich wirklich. Da gibt es die Augenblicke, in denen ich aus der Haut fahre oder umgekehrt vor Begeisterung 'mich selbst vergesse'. Auch das ist ein Teil von mir, aber auch das zusammen macht noch nicht mein 'Ich' aus. Ebenso lassen sich andere auf mich ein, und haben nur Bruchstücke, die sie von mir kennen oder zu begreifen meinen. Niemand sieht mich so, wie ich bin. Zwar glaube ich, dass ich von Gott erkannt bin, aber auch das ahne ich nur tastend im Glauben.
  • Im Advent stellt uns die Kirche mit der Auswahl der Lesungen vor die Frage nach unserem Ziel und unserer Zukunft und die Frage nach dem Ziel und der Zukunft der Welt als Ganzer. Das Verbindende der ganz verschiedenen Texte, Motive und Bilder ist, dass es ein Zugehen auf die Begegnung ist: Die Begegnung mit dem menschgewordenen Wort und die Begegnung, in der wir am Ende der Zeit unserem Schöpfer gegenüber treten. Im Markusevangelium greift die erste Begegnung nicht auf die Geburt und Kindheit Jesu zurück, sondern auf den Beginn des öffentlichen Wirkens und seine Ankündigung durch den Täufer Johannes. Die zweite Begegnung, die dort stattfindet, wo Raum und Zeit im Tod vergehen, ist heute durch die Lesung aus dem Zweiten Petrusbrief vertreten.

2. Offenbar werden

  • An dieser Stelle möchte ich Sie auf ein Problem hinweisen. In der Übersetzung des Petrusbriefes, die wir gehört haben, heißt es: "Dann wird der Himmel prasselnd vergehen, die Elemente werden verbrannt und aufgelöst, die Erde und alles, was auf ihr ist, werden nicht mehr gefunden." Tatsächlich steckt dahinter ein Übersetzungsproblem, denn der griechische Originaltext ist an der Stelle unklar. Schon frühe Abschriften haben versucht, durch Korrekturen an dem Text Klarheit zu schaffen. Denn in dem (wahrscheinlichen) Original hieß es: "... die Erde und alles, was auf ihr ist, werden gefunden." Das "nicht mehr" wurde in einzelnen Handschriften eingefügt, denn sie konnten sich wohl nicht erklären, was das bedeuten soll, dass "die Erde gefunden" wird, wenn der Himmel und seine Elemente "prasselnd vergehen". Andere antike Schreiber haben beim Kopieren des Textes das "gefunden werden" durch das im Griechischen ähnlich klingende "verbrennen" ersetzt, wohl auch weil sie den Text sonst unverständlich fanden und ihre Korrektur im Griechischen ganz ähnlich klingt ("ekturthestai" statt"heurethesetai"). Bei den ältesten und wichtigsten alten Handschriften aber steht das "gefunden werden", ohne jede Einschränkung.
  • Ich schildere das so ausführlich, einerseits, weil es wichtig ist zu wissen, dass die Übersetzung biblischer Texte nach antiken Handschriften an manchen Stellen solche Schwierigkeiten birgt, auch wenn die Bibel der bei weitem am besten bezeugte antike Text ist, und diese Schwierigkeiten kaum zentrale Glaubensfragen betreffen. Zum anderen habe ich das so ausführlich geschildert, weil ich dahinter einen wichtigen Gedanken entdecke.
  • Wenn ich den Text in seiner bestüberlieferten Version wörtlich nehme, dann bedeutet er, dass diese Welt und unser Leben am Ende der Zeit weder "verbrennen" noch "nicht gefunden" sondern im Gegenteil "gefunden" werden. Wenn es heißt, zuvor "wird der Himmel prasselnd vergehen, die Elemente werden verbrannt und aufgelöst", dann bedeutet dies im antiken Weltbild: Das Himmelsgewölbe, das zwischen uns und der unerreichbaren Sphäre Gottes aufgespannt ist, wird am Ende der Zeit vergehen, und alles, was sinnlich erfassbare Elemente sind, wird aufgelöst werden. Dann, ja dann, werden wir "gefunden werden" wie und wer wir sind. Die Menschen werden offenbar, wir werden offenbar; das ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen - aber auch der Anfang von etwas Neuem.

3. Verwandlung der Sinne

  • Der ganze Abschnitt aus dem Zweiten Petrusbrief dreht sich eigentlich um die Frage, ob wir Menschen wissen müssen und wissen können, wann das Ende der Welt gekommen ist. Ist es widersprüchlich, wenn Jesus gleichzeitig davon spricht, dass das alles nah ist und doch niemand den Tag und die Stunde weiß (z.B. Mk 13)? Gerade jetzt, im Advent, und gerade im Nachdenken über einen Text wie den Petrusbrief wird mir klar: Hier ist kein Widerspruch, sondern eine ganz wesentliche Spannung. Wo ich diese Spannung aushalte, entdecke ich die Zeit, die mir geschenkt ist und die jeden Augenblick wertvoll macht, gerade weil diese Welt und mein Leben nicht ewig sind, sondern im Grunde jeden Tag "prasselnd vergehen" können. Dass das Ende nah ist und unbestimmt zugleich, verweist mich auf heute.
  • Diese Zeit ist mir geschenkt, damit Begegnung geschieht. Ich lebe als sinnlich verfasstes Wesen in einer Welt, in der wir einander - und letztlich auch Gott - nur gleichnishaft und in der Uneindeutigkeit sinnlicher Erfahrungen begegnen: Wir riechen, schmecken, hören und sehen, ohne dass wir durch das, was wir dabei erkennen, festgelegt werden. Gerade dass wir einander immer auch verborgen sind, öffnet den Raum, in dem wir tastend einander und darin auch uns selbst entdecken und entwerfen können. Es ist eben nicht alles in einem genetischen Code oder blinder Notwendigkeit festgelegt. Wir gehen tastend aufeinander zu.
  • Wenn der Petrusbrief schreibt, "die Elemente werden verbrannt und aufgelöst", dann erkenne ich darin genau diese Elemente meiner sinnlich verfassten Welt. Die Sinne des Menschen sind im Heute perfekt - gerade weil sie nicht nur offenlegen, sondern auch verbergend Freiraum zur Entscheidung für einander schaffen. Es ist auch der Raum, in dem Gott uns begegnet. Denn dies steht über all den verschiedenen Weisen, mit denen die Bibel versucht, die Grenzen von Raum und Zeit und die Endlichkeit der Welt zu umschreiben: In dieser sinnlich verfassten, endlichen Welt ist Gott Handelnder und will Gott uns begegnen. Und wenn uns eines, vielleicht auch nahen, Tages die Sinne schwinden und die große Begegnung sich ereignen kann, dann ist das für uns sicher ein schmerzlicher Prozess, weil er als Verlust erlebt werden wird. Wir werden aber dahin geführt werden, darin die große, von Liebe getragener Begegnung zu entdecken und mit verwandeltem Sinn zu feiern. Amen.