Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt zum 12. Sonntag im Lesejahr A 2008 (Matthäus)

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22. Juni 2008 - Universitätsgottesdienst St. Antonius

1. Gruppendynamik

  • Es gibt Erfahrungen überwältigender Klarheit. Der Kaiser ist nackt. Alle buckeln vor ihm und preisen seine prächtigen Gewänder. Sie meinen wirklich, die Pracht zu sehen. Aber der Kaiser ist nackt. Wer sich aus dem Bann der Macht des Kaiser lösen kann, wird das mit überwältigender Klarheit sehen.
    Ähnliches passiert, wenn ich von einem Augenblick auf den anderen merke, was Gruppendynamik anrichtet, besonders vielleicht in der Familie oder in Freundeskreisen. Eben noch schien es mir völlig richtig, diesen oder jenen aus unserer Mitte abzustrafen. Dann aber geht es mir schlaglichtartig auf: Er hat ja Recht! - Wer solche Erfahrung gemacht hat, ahnt, was dem Propheten Jeremia passiert ist.
  • Politik kommt ohne diese Gruppendynamik nicht aus. Egal ob es sich um einen AStA oder einen Vereinsvorstand handelt, eine Bundesregierung oder das Leitungsteam einer Umweltorganisation. Sobald es in die Auseinandersetzung geht, müssen die Kräfte konzentriert werden. Die eigenen Argumente stehen im Vordergrund. Die Gruppe bestärkt sich darin, für die richtige und gute Sache zu kämpfen.
    Glücklich das politische System, das sportliche Regeln ausgebildet hat für die Auseinandersetzung, dass die Dissoziation des Politischen nicht umschlägt in das absolute Gegeneinander von Freund und Feind. Glücklich auch die Gesellschaft, in der Menschen sich so engagieren und nicht nur abgeklärt beiseite stehen, sich der Unabhängigkeit einer eigenen Meinung rühmen, um den Preis, nichts zu erreichen und nichts zu bewegen. Es braucht gerade in einer freien Gesellschaft Menschen, die sich zusammen tun, um etwas durchzusetzen. Sonst geschieht nichts.
  • Israel zu Zeiten des Jeremia konnte sich Stillstand nicht leisten. Aber es war keine Demokratie. Der König und sein Hof bestimmen die Politik. Es ist nicht daran zu denken, dass die Regierung wie in freien Wahlen abgewählt würde. Man hätte das als Schwäche des Systems ausgelegt. Denn die Zeiten waren schwer. Die Nation war bedroht. Die herrschenden Kreise mussten zusammenstehen, um die Katastrophe zu verhindern. Das mächtige Babylon bedrohte die Existenz Israels und man war der festen Überzeugung, Israel müsse nur geschickt genug zwischen den Mächten lavieren, um seine Haut zu retten. Dafür war man schon früher bereit gewesen, einen hohen Preis zu bezahlen: Mit dem Einfluss fremder Herrscher hielten auch ihre Götter Einzug in Israel und opferte man ihnen. Das Opfer aber war nicht harmlos. Der Baalskult forderte Menschenopfer, das Opfer der Töchter und Söhne. Ein hoher Preis für eine entschlossene Außenpolitik.

2. Prophetenschicksal

  • Jeremia passt da nicht rein. Er ist am Hofe und schert trotzdem aus. Gerade jetzt, wo alle zusammenstehen müssten, leistet er sich eine andere Meinung - und das öffentlich. Statt das Volk zu darin bestärken, alle Kräfte zu sammeln um der babylonischen Bedrohung zu trotzen, predigt Jeremia, dass Kapitulation das einzig ist, was noch bleibt. Für Jahrzehnte, mein er wurde es versäumt, durch eine Politik der Gerechtigkeit und der Treue zum Gott Israels einen eigenen Weg zu gehen. Jetzt könne die völlige Katastrophe nur verhindert werden, indem man sich Babylon unterwirft.
  • Jeremia sollte Recht behalten. Weil der König nicht auf ihn hörte, wurde Jerusalem zerstört, der Tempel niedergerissen und die Oberschicht verschleppt ins Exil. Doch wer will so Recht behalten? Vor allem aber hilft das Hinterher dem Jeremia nicht im Jetzt. Jetzt ist er der, der systematisch fertig gemacht wird. Verhaftung und Folter war das eine. Das andere ist das "Flüstern der Vielen: Grauen ringsum!" Jeremia steht allein da. Er wird öffentlich gemobbt und gemieden: "Meine nächsten Bekannten warten alle darauf, dass ich stürze."
  • Jeremia kann nicht anders. Das ist seine Tragik. Er könnte ja sehen und sich still innerlich freuen, dass er Recht hat, und abwarten. Aber, wie er selbst sagt, würde es ihn innerlich zerreißen, wenn er dem äußern Konflikt aus dem Weg ginge. Gott hat ihm die Klarheit des Propheten geschenkt: Der Kaiser ist nackt. Er kann nicht schweigen. Die Leidenschaft Gottes für sein Volk brennt im Inneren des Propheten. In den Versen, die sich an die heutige Lesung anschließen, wird das dramatisch deutlich: Jeremia wünscht sich, nicht geboren zu sein, um dieser Qual zu entgehen.

3. Fürchtet euch nicht

  • Das Schicksal des Jeremia sollte uns nicht gleichgültig bleiben. Denn auch wir sind Propheten. Wir wurden getauft, um teilzuhaben am Prophetenamt Christi. Und es ist Jeremia, der unter allen Propheten Jesus in seinem Schicksal am ähnlichsten ist. Deswegen ist die Taufe eine Berufung, wach zu sein und leidenschaftlich wie ein Prophet. So groß die Versuchung sein mag, Konflikten aus dem Weg zu gehen, so sagt doch Jesus: "Wer mich vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel verleugnen."
  • Ziemlich sicher wird es für uns nicht so dramatisch werden. Aber jeder von uns kann in die Situation kommen, wo uns Gott schlaglichtartig die Augen öffnet, wo Dinge nicht stimmen und Menschen zum Opfer gemacht werden um des lieben Friedens willen. Wer nur wach ist, kennt den Druck der Gruppe mitzumachen. Wer den Mund aufmacht, gefährdet den Endsieg. Wer gegen die Gruppe spricht, wird vielleicht nicht leiblich bedroht, aber in seiner psychischen und sozialen Existenz. Dennoch: "Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, sondern fürchtet euch vor dem, der Seele und Leib ins Verderben der Hölle stürzen kann."
  • Hier ist der Ort uns zu wappnen. Hier kann uns die Auseinandersetzung mit dem Schicksal Israels den Blick schärfen auch für soziale Mechanismen. Dazu lesen wir in jedem Gottesdienst aus der Heiligen Schrift. Wir lesen und hören und feiern aber auch, dass wir nicht Propheten im eigenen Auftrag sein müssen. Wir müssen nicht um jeden Preis und immer Recht behalten und unseren Dickkopf durchsetzen. Ja, wir können vor Gott und voreinander sogar bekennen, dass wir irrende und sündige Menschen sind - und im ständigen Gebet Gott bitten, uns nicht nur zu zeigen, wann es wirklich an der Zeit ist, den Mund aufzumachen, sondern dann auch aus der Gemeinschaft mit Christus die Kraft zu finden, das auszuhalten, was Menschen uns antun. Wir können mit Jeremia Gott als den letzten und eigentlichen Richter anrufen: "Der Herr der Heere prüft den Gerechten, er sieht Herz und Nieren. Ich werde deine Rache an ihnen erleben; denn dir habe ich meine Sache anvertraut." Und wir können für uns selbst die Zuversicht haben: Der seinen Sohn von den Toten erweckt, er sagt auch uns: "Fürchtet euch nicht!" Amen.