Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Schüler-Predigt zum Evangelium des 11. Sonntags im Lesejahr B 1991 (Markus)

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20./21. Februar 1991 - Oberstufengottesdienst Aloisiuskolleg Bad Godesberg

1. Das tägliche Wunder

  • Es ist einigermaßen verwunderlich: Wenn Jesus Zeichen für das Reich Gottes setzen will, dann wirkt er spektakuläre Wunder. Wenn er jedoch vom Reich Gottes selbst spricht, dann verfällt er ins Alltägliche. Zwar ist das Alltägliche, das Jesus schildert heute komplizierter geworden: Der Bauer sät nicht einfach und legt sich dann schlafen, sondern studiert das Wachstum seiner Saat aufmerksam und versucht es mit biologisch-dynamischen Wohltaten oder chemischen Grausligkeiten zu befördern. Aber die Aussaat des Bauern bleibt doch etwas unspektakulär Alltägliches. Nur wenn es Jesus es so erzählt und uns dazu bringt, darüber nachzudenken, dann wird schnell deutlich, dass in dem Alltäglichen ein kleines Wunder steckt - vielleicht sogar das entscheidende Wunder.
  • Aus der Verbindung der Stichwörter "Wunder" und "Alltäglich" entsteht ganz automatisch die Gedankenbrücke zu einem der größten alltäglichen Wunder: Wie ist es möglich, dass ich es schaffe jeden Morgen aufzustehn! Alles Irdische spricht dagegen, alle Kräfte versuchen mich daran zu hindern, und doch kommt es zu diesem staunenswerten Ereignis. Eigentlich müßte sich allmorgendlich ein Publikum um mein Bett scharen, um dieser Leistung Beifall zu zollen. Nur meine Bescheidenheit und weil der Anblick vielleicht doch nicht so erhebend ist, haben bisher dahingehende Pläne verhindert.
  • Aber auch die Saat wächst ja ohne den Beifall des Publikums. Die entscheidenden Dinge des Himmelreiches taugen nicht zur Life-Übertragung. Um das Missverständnis auszuräumen: Mein morgendliches Aufstehn ist genauso wenig das Himmelreich selbst wie das Wachsen der Saat. Diese kleinen Wunder helfen uns aber, das mit dem Reich Gottes besser zu verstehen. Deswegen sagte Jesus "Mit dem Reich Gottes ist es so, wie...", und bringt uns Beispiele, wie das mit dem Reich Gottes beginnt.

2. Regelmäßigkeit und Vorsatz

  • Zunächst bleibe ich noch beim Wunder des morgendlichen Aufstehens bevor ich auf das Wunder der Saat zurückkomme, die im Boden keimt und wächst. Die hohe Erfolgsquote beim termingerechten Beenden des Schlafes hat eine Ursache. Es ist nämlich nichts so, dass morgens der Wecker läutet und ich daraufhin beginne den Zustand der Welt im Allgemeinen und meine Befindlichkeit im Besonderen zu reflektieren, um diese Überlegungen in die Frage einmünden zu lassen, ob es denn in dieser Situation angemessen wäre aufzustehn. Vielmehr unterwerfe ich mich gnadenlos der Regel: Am Vortag wird entschieden, wann ich aufzustehn habe. Diese Entscheidung ist unwiderruflich und die Selbstdiskussion morgens im Bett strickt verboten. Und siehe da: statt mich morgens mit der Entscheidung zu quälen, stehe ich auf, wasche mich, spreche mein Morgengebet, habe hoffentlich Zeit für Kaffee und Zeitung und beginne mit der Arbeit.
    Wenn es mit dem Himmelreich ähnlich ist, dann bedeutet es ganz einfach: Der Weg zum Reich Gottes besteht nicht (nur) aus einsamen, höchstwichtigen Entscheidungen, vor allem nicht (nur) aus Augenblicks-Entscheidungen. Der Weg zum Reich Gottes besteht zunächst einmal darin, dass es ein paar Dinge gibt, die ganz von selbst geschehen, ohne dass man viel fragt warum. Solche Regeln sind nicht tödlich, auch nicht nervtötend. Solche Regeln lassen leben, sie mindern den Entscheidungs- und Arbeits-Druck und halten den Kopf frei für das Wesentliche. Vielleicht sind nur deswegen aus so vielen Freiheitskämpfern blutige Diktatoren geworden, weil ihnen solche einfachen Regeln fehlten.
  • Nun ist natürlich das morgendliche Aufstehn nicht die Wichtigste Regel im Leben. Ich will es ja nur als Beispiel benutzen, um zu zeigen, dass es gut ist, in einigen Bereichen Angewohnheiten zu haben, die man lange genug einübt, um sie nicht dauernd in Frage zu stellen. Schlechte Angewohnheiten haben wir genug. Es kömmt darauf an, sich ein paar gute zuzulegen. Durch nichts wird die Welt ähnlich radikal verändert. Denn solche Regelmäßigkeiten verändern mein Leben; gute Angewohnheiten machen gute Menschen und das weit weniger schmerzvoll als mit trail and error (*). Das Reich Gottes kommt nicht durch Aufstände und Revolutionen, es wächst nicht, weil alle Menschen sich jetzt fest vornehmen sich zu bessern, das Reich Gottes besteht nicht in dem einen großen Erlebnis, das alles verändert. All das mag es geben. All das mag auch seine Zeit haben. Aber entscheidender ist der Eingriff in das tägliche Leben durch tägliche, regelmäßige feste Angewohnheiten. Riten verändern die Welt.
  • Zum Glück sind die meisten Riten bei Weitem freudvoller als das Ausgangsbeispiel, der Ritus der mit dem Läuten des Weckers beginnt. Die großen Riten sind Feste, die dem Leben einen Rahmen geben (bei denen man nicht nur stillsitzen und mundhalten muss, sondern aufstehn und mitsingen darf). Riten das sind feierliche Feste nach Regeln, die nicht neu ausgedacht werden, sondern aus der Tiefe der Vergangenheit kommen und in die Zukunft reichen. Es gibt auch ganz persönliche Riten, die irgendwann entstehen, und mir ganz wichtig werden. Aber der eigentliche lebensermöglichende Ritus ist das Nicht-Neue, das das Neue ermöglicht. Wenn Dein Leben überschwemmt wird von Abenteuer und Aufbruch, dann ist entscheidend, wo Du Deine Wurzeln hast und wie Du sie pflegst. Das ist entscheidend nicht zuletzt dafür, in welche Richtung der Aufbruch geht, Aufbruch zum Leben oder Aufbruch zum Tod. Der Ritus trägt, wenn ich mich ihm anvertraue. Er trägt hindurch durch Mittelmaß, Lethargie und Wahn. Es überrascht, immer wieder Leute zu treffen, die aus dem größten Krisen im letzten Augenblick doch noch herausgeschlittert sind, weil sie sich den Ritus der Heiligen Messe bewahrt haben, obwohl er ihnen lange Zeit nur leer vorkam. Aber der Ritus ist nichts Neues. Er ist deswegen auch nicht gleich leer, wenn er mir leer vorkommt.

3. Das Evangelium von der selbstwachsenden Saat

  • Jetzt liest sich das Evangelium überraschend neu: Ein Mann sät Samen auf den Acker. Es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst, und der Mann weiß nicht, wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre. Sobald aber die Frucht reif ist, legt er die Sichel an, denn die Zeit der Ernte ist da.
    • Gesät wird im Hinblick auf die Ernte. Die Ernte ist nicht im Jetzt, sondern im Morgen. Säen ist daher zunächst einmal, den Samen der Zeit anvertrauen. Im Vertrauen darauf müssen wir Saatgut investieren. Die Grundsatzentscheidung aufzustehn, wenn der Wecker läutet, genauso wie die Grundsatzentscheidung, den Sonntag mit den Sakramenten der Kirche zu feiern, sind so ein Aussäen im Jetzt.
    • Dann wird es Nacht, wird es Tag, vergeht die Zeit. Was werden soll, braucht diese Zeit, braucht das Zutrauen in die Regelmäßigkeit. Die meisten Dinge im Leben lernt man durch hartnäckige Regelmäßigkeit, bei manchem Sport oder einem Musikinstrument kann es lange dauern, bis auch nur annähernd ein Erfolg zu sehen ist. Jetzt nicht von Mal zu Mal zu entscheiden, sondern durchzuhalten, ist entscheidend. Wenn der Bauer fünf Tage nach der Aussaat aufs Feld kommt, nichts sieht, und daher aller aufgibt, umgräbt, liegen lässt: dann wird es nie zur Ernte kommen. Genauso muss ich den Riten, den althergebrachten guten Angewohnheiten Zeit lassen.
    • Nicht-Tun-Müssen ("und weiß nicht wie"). Nicht alles muss von uns getan werden. Nur wenn wir die Freiheit haben, zwischen Wichtigem und jetzt weniger Wichtigem zu unterscheiden, nur wenn wir Vertrauen haben, dass auch andere etwas machen können, wird uns das gelingen, was unsere Aufgabe ist. Vielleicht entdecke ich dann auch die Dinge, die ich Gott überlassen kann.
  • Es gehört eine große Souveränität und Freiheit zu dieser Lebenshaltung. Aber nur außer dieser Mischung von Mut zum Handeln und der Fähigkeit, Entscheidungen durchzuhalten und Früchte wachsen zu lassen wird wirklich Großes. Auch das Reich Gottes wächst letztlich nur so. Amen.

 


 

Anmerkung:

*Platons Nomoi: Erziehung durch Schmerz und Lust ist Drangsal. Deswegen haben die Götter die Feste eingerichtet und den Menschen die Musen als Festgenossen gegeben.