Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Bibelarbeit ÖKT München 2010 Gen 9 (Noachbund)

2. Ökumenischer Kirchentag: Damit Ihr Hoffnung habt
Bibelarbeit am Donnerstag, den 13. Mai 2010
zu dem Text Gen 9, 8-17: "...des ewigen Bundes gedenken"

P. Martin Löwenstein SJ, Hamburg

(der Text als pdf-Datei) - Der Vortrag als mp3 - Podcast zum Hören (ca 50 Min)

[Lied zur Einstimmung: Jesus in the morning (127]]

1. Arbeit

  • An den Anfang der drei vollen Tage des Kirchentages wurde jeweils eine Bibelarbeit gestellt. Das ist bemerkenswert, denn angesichts dessen, dass die Meisten sich für den Kirchentag Urlaub nehmen müssen, bedeutet die Bibelarbeit am Morgen zunächst einmal: Arbeit. Ich bin erfreut und beeindruckt, dass Sie so früh aufgestanden und aus Ihren Quartieren herkommen sind, um zu arbeiten.
  • Arbeit ist gehemmter Genuss. Wer Korn, Zucker und Eier sogleich gierig verschlingt, arbeitet nicht. Wer sie sorgsam zu Pfannkuchen zusammenführt, arbeitet. Arbeit ist also nicht der Verzicht auf Genuss, sondern die Konsequenz aus der Erkenntnis, dass der Genuss größer sein kann, wenn wir uns nicht gleich auf alles stürzen, das vor uns liegt, und es verschlingen, sondern zunächst einmal daran arbeiten.
  • Dies gilt auch für Bibelarbeit. Es ist durchaus möglich, die Bibel unmittelbarem Genuss zuzuführen, indem ich mich nicht groß um die Texte bemühe, sondern sie sogleich konsumiere. Meist sind das dann die Texte, die von vorne herein um ihrer leichten Konsumierbarkeit willen ausgewählt wurden. Genau genommen ist die Bibel dann einfach Dekoration und Illustration dessen, was ich von vorne herein schon weiß. Schlimm ist das dann, wenn ich mich um diese Dekoration nur deswegen mühe, weil ich mit der Bibel meiner eigenen Meinung und meinen eigenen Bedürfnissen eine Autorität verleihen will, die sie ohne Dekorationstüpfelchen aus der Heiligen Schrift nicht hätten.
  • Vor den Genuss ist die Arbeit gesetzt. Wir werden uns in dieser Stunde mühen, den Abschnitt aus der Heiligen Schrift, der uns vorgelegt wurde, tiefer zu verstehen. Wir werden versuchen ihn im Zusammenhang der Offenbarung Gottes in der Heilsgeschichte zu verstehen um dann - hoffentlich - durch diesen Text besser zu verstehen, wer wir vor Gott sind.
  • Bibelarbeit ist Beziehungsarbeit. Die Bibel ist nicht eine Informationsquelle, vornehmer zwar, aber eine unter anderen. Die Bibel ist das Bundesbuch: In ihr begegnet uns das Zeugnis des Bundes, den Gott mit seinem Volk Israel und von dort aus mit uns aus den vielen Völkern geschlossen hat. Die Bibel ist damit wesentlicher Bestandteil unserer Beziehung zu Gott und Gottes Beziehung zu uns als seinem Volk, der Gemeinschaft der Getauften, die dieser Kirchentag zusammenführt. Die Arbeit am Text der Bibel soll also uns helfen, unsere Beziehung zu Gott und zu einander zu vertiefen, Gott mehr zu verstehen und - vor allem - mehr zu lieben. Das ist der letztlich angezielte Genuss: Dass unser Leben mehr mit Gott verbunden ist.
  • Bibelarbeit ist Beziehungsarbeit - und Beziehungsarbeit braucht immer beide Seiten. Deswegen ist jede Arbeit an der Heiligen Schrift einseitig, wenn wir nicht zugleich Gott um seine Mitarbeit bitten - wissend, dass Gott unsere Bitte erhört.

[Bitte um Gottes Geist im Lied: Komm herab, o Heilger Geist]

Schrifttext

Wir hören jetzt aus dem Buch Genesis, dem Ersten Buch Mose, Kapitel 9 die Verse 8-17:
Dann sprach Gott zu Noach und seinen Söhnen, die bei ihm waren: "Hiermit schließe ich meinen Bund mit euch und mit euren Nachkommen und mit allen Lebewesen bei euch, mit den Vögeln, dem Vieh und allen Tieren des Feldes, mit allen Tieren der Erde, die mit euch aus der Arche gekommen sind. Ich habe meinen Bund mit euch geschlossen: Nie wieder sollen alle Wesen aus Fleisch vom Wasser der Flut ausgerottet werden; nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben." Und Gott sprach: "Das ist das Zeichen des Bundes, den ich stifte zwischen mir und euch und den lebendigen Wesen bei euch für alle kommenden Generationen: Meinen Bogen setze ich in die Wolken; er soll das Bundeszeichen sein zwischen mir und der Erde. Balle ich Wolken über der Erde zusammen und erscheint der Bogen in den Wolken, dann gedenke ich des Bundes, der besteht zwischen mir und euch und allen Lebewesen, allen Wesen aus Fleisch, und das Wasser wird nie wieder zur Flut werden, die alle Wesen aus Fleisch vernichtet. Steht der Bogen in den Wolken, so werde ich auf ihn sehen und des ewigen Bundes gedenken zwischen Gott und allen lebenden Wesen, allen Wesen aus Fleisch auf der Erde." Und Gott sprach zu Noach: "Das ist das Zeichen des Bundes, den ich zwischen mir und allen Wesen aus Fleisch auf der Erde geschlossen habe."

2. Ein Bund mit allem was lebt

  • Bund und Bogen sind die Bilder dieses Abschnittes. Gott bietet Noach und seiner Sippe und in ihm allen Menschen einen Bundesvertrag an. Dabei tritt er mit seiner Zusage gleichsam in Vorleistung: "Nie wieder sollen alle Wesen aus Fleisch vom Wasser der Flut ausgerottet werden; nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben." Das Bemerkenswerte ist, dass dieser Bund nicht nur den Menschen gilt, sondern "mit allen Lebewesen bei euch, mit den Vögeln, dem Vieh und allen Tieren des Feldes, mit allen Tieren der Erde, die mit euch aus der Arche gekommen sind." Der Bund soll also umfassend sein mit allem, was auf der Erde und in den Lüften lebt. (Dass die Fische nicht mit genannt sind, erklärt sich aus der Logik der Erzählung, denn die Sintflut war für sie nun wirklich nicht bedrohlich)
    Das zweite Bild ist der Bogen. Der Bogen ist ein Waffe; es ist der Kriegsbogen. Er verweist uns auf den Hintergrund des Abschnittes: In seinem Zorn über das gewalttätige Treiben der Menschen hat Gott die Flut über die ganze Erde gebracht. Nur aus einem unbegreiflichen Erbarmen hat er eine Sippe ausgenommen. Jetzt legt Gott die Waffen nieder. Aber er begräbt den Kriegsbogen nicht, er hängt ihn schimmernd in allen Farben an's Firmament, wo er sichtbar wird, wenn das Zusammenballen der Wolken als Bild neuerlichen Zornes erscheint, dann erscheint mit den zusammengeballten Wolken auch der Bogen. Er ist Erinnerung daran, dass nicht alles in Ordnung ist auf Erden, und zugleich Erinnerung an die Zusage Gottes, er werde nicht wieder zum Kriegsbogen greifen.
  • Diese Sprache und diese Bilder sind uns bis zur Unverständlichkeit fern. Sie stammen aus einer Zeit und einer Rationalität, die nicht die unseren sind. Wenn wir uns aber der Arbeit unterziehen, diese Bilder zu verstehen, dann lohnt das. Wir müssen den beiden Versuchungen widerstehen: Der Versuchung, die Bibel oberflächlich und seicht-illustrativ unserem Denken einzupassen, und der Versuchung, die Arbeit zu scheuen und die Bibel beiseite zu legen. Es lohnt sich, dran zu bleiben, denn gerade in ihrer Fremdartigkeit zwingt uns die Bibel, unseren Horizont zu sprengen, uns auf einen völlig neuen Ansatz einzulassen - und dies dann in unsere Rationalität, in unsere Situation und unser Suchen zu übersetzen. Den Bilder des vorliegenden Abschnitts werden wir und nur nähern können, wenn wir den ganzen Zusammenhang der Gedanken vergegenwärtigen, in dem sie ihren Platz haben.

3. Bemerkung zu den ersten Kapiteln der Bibel

  • Die ersten elf Kapitel der Bibel - Genesis 1 bis 11 - unterscheiden sich von allem, was danach kommt. Die Kapitel stehen heute am Anfang der Bibel, sind aber später entstanden als manch anderer Teil. Nur von der Sache her gehören sie an den Anfang. Denn diese elf Kapitel sind nicht Teil der in der Geschichte verankerten Erzählungen der Bibel, sondern liegen aller Geschichte zu Grunde. In ihnen versucht das Volk Israel, Antwort zu finden auf die Frage nach dem, was von Gott her die Welt soll und ist und was der Mensch sein soll und was er ist. Das Volk Israel hatte bis dahin Gott schon in seiner eigenen Geschichte erfahren und kennen gelernt als "einen gnädigen und barmherzigen Gott, langmütig und reich an Huld und Treue" (Ex 34,6 und öfters). Die Israeliten fragen sich, warum dennoch die Welt so voll Unheil ist. Weil sie Gott kennen gelernt haben, können sie darauf eine Antwort geben und sie tun es, indem sie Geschichten gestalten und erzählen. Dank des Fortschrittes der Naturwissenschaft können wir heute das geologische, physikalische und evolutionäre Werden des Kosmos und der Welt viel genauer beschreiben als die Bibel. Aber so wenig Gott uns die Bibel geschenkt hat, um uns die Mühen der Naturwissenschaft zu ersparen, so wenig kann die Naturwissenschaft uns je sagen, was ihre Erkenntnisse bedeuten: für uns, für unsere Beziehung zu einander, zu der ganzen Schöpfung und zu ihrem Schöpfer. Das aber ist das Thema der Heiligen Schrift. Wir sollten uns darin nicht von denen irritieren lassen, die Gott zu einem besseren Bio- oder Physiklehrer degradieren und die Offenbarung um ihre Bedeutung bringen.

[Zwischenstück: Bless the Lord (49]]

4. Von Adam zu Noach

  • Gott lag im Clinch mit den Menschen, weil sie seine Schöpfung hintertrieben haben. Das, was der Mensch daraus gemacht hat, ist nicht, was Gott gewollt hat. Wie von Gott her die Welt sein sollte, schildern auf verschiedene Weise zwei Erzählungen zu Beginn der Bibel. Die eine beginnt mit der Erschaffung von Himmel und Erde und singt ein Lied davon, wie Gott die Welt erschaffen hat: An fünf Tagen schafft Gott einen Lebensraum für den Menschen. Am sechsten Tag werden die lebendigen Wesen und zum Schluss der Mensch nach Gottes Abbild als Mann und Frau erschaffen. Und immer wieder heißt es, dass die Schöpfung gut ist, wie Gott sie erschafft. Gott will in seiner Liebe Leben erschaffen und im Menschen von Du zu Du dem Menschen als seinem Abbild begegnen, denn Gott ist Liebe und Liebe ist Begegnung. Dasselbe, nur äußerlich gesehen anders herum, erzählt die zweite Geschichte, die vermutlich älter ist: Aus dem Staub der Erde erschafft Gott den Menschen und erst dann fügt er als Lebensraum Pflanzen und Bäume hinzu. Gott legt einen Garten an für den Menschen. Aber auch hier geht es um Beziehung, denn, damit das Mensch nicht allein sei, erschafft Gott Tiere. Diesen kann der Mensch Namen geben - Beziehung zu ihnen aufnehmen -, auch wenn die Tiere noch nicht die Erfüllung der Sehnsucht des Menschen nach Gemeinschaft sind. Erst Frau und Mann zusammen sind Liebe und Beziehung im vollen Sinne.
  • Die Menschen damals waren nicht dumm. Sie haben nicht, wie manche heute, gemeint in diesen Berichten ginge es um naturkundliche Aussagen über die Evolution. Sie haben zwei äußerlich einander widersprechende Texte neben einander gestellt, damit ganz klar ist, worum es in dieser Offenbarung geht: Gott hat seine Schöpfung gewollt als eine Welt, in der Beziehung und Einklang herrschen. Eine Welt die gut ist. In diesem Garten Eden geht Gott selbst im Abendwind spazieren und nichts trennt die Begegnung von Gott und Schöpfung
  • Dies ändert sich erst, als der Mensch selbst sein will wie Gott. Er will vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse essen, will bestimmen darüber, was gut ist und böse. Die Frucht dieser Selbstermächtigung ist die Isolierung. Der Mensch erkennt sich als nackt und versteckt sich. Ein Symbol dafür, was im Sündenfall passiert ist: Gemeinschaft ist verloren gegangen, Liebe verletzt.
  • Von hier her verkehrt sich die Schöpfung immer mehr in das Gegenteil dessen, was Gott gewollt hat. Von der Gewalttat Kains an seinem Bruder Abel aus überschwemmt die Erde. Gott sieht seine Schöpfung als gescheitert an - gescheitert an der Selbstsucht des Menschen. Gott schickt die Flut über die Erde. Hier aber steht etwas, das ganz überraschend ist. Heute klingt es uns vertraut zu meinen, dass die Schöpfung ohne den Menschen doch ganz in Ordnung sei. Wenn eine Konferenz der Tiere beschlösse, den Menschen vom Antlitz der Erde zu vertilgen, dann sei die Schöpfung wieder gut und schön.
  • Die Bibel widerspricht dieser naturromantischen Sicht in zweifacher Weise:
    • Erstens kommt die Schöpfung ohne den Menschen nicht an ihr Ziel. Die Schöpfung zielt auf Beziehung und Liebe. Gott ist so sehr Liebe, dass sozusagen aus dem innersten Gottes heraus Gott sich zurücknimmt, partiell ohnmächtig wird, neuen Raum schafft, damit ein Wesen in Freiheit diese Liebe empfangen und erwidern kann. Dies ist der Mensch und kein noch so sehr empfindsames Tier.
    • Zweitens aber ist das Tier für die Heilige Schrift keineswegs belanglos. In dieser Welt, die Gott geschaffen hat, sind die Tiere mit dem Menschen mit geschaffen, Mitgeschöpfe. Sie haben daher in der Verstehenswelt der Bibel Anteil am Geschick der Menschen. Der Mensch handelt im Guten wie im Schlechten gleichsam stellvertretend für alles Lebendige. Das drückt die Bibel auf für uns ganz merkwürdige Weise aus: Dort wo der Mensch - Kain - Mord und Tod in die Welt bringt, dort korrumpiert er alles Lebendige. Besonders der Prophet Jesaja hat dieses Bild geprägt, wenn er davon spricht, wie am Ende der Zeiten der Ursprung wieder zur Geltung kommt: "Wolf und Lamm weiden zusammen, der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Man tut nichts Böses mehr"(Jes 65,25). Im Paradies sind auch die Löwen Vegetarier, wie es im Anfang war. Umgekehrt haben die Tiere auch Anteil an der Rettung. Dies ist der große Kasten, die Arche, in der die Tiere mit gerettet werden, weil Noach in den Augen Gottes Gnade gefunden hat.
  • Wir ahnen, was der Bundesschluss unter dem Regenbogen bedeutet. Zugleich mit "dem Menschen", repräsentiert in Noach, schließt Gott mit allem Lebendigen einen Bund. "Nie wieder sollen alle Wesen aus Fleisch vom Wasser der Flut ausgerottet werden." In diesen Bund empfängt der Mensch nicht nur für sich, sondern stellvertretend für alles Lebendige, denn alles, was lebt, trägt Gottes Lebensatem in sich. Die Wolken, die sich zusammenballen und der Bogen, der dabei mahnend am Himmel steht, erinnern an den Konflikt, der diesem Bund vorausgeht. Weil aber Gott "gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Huld und Treue ist" soll trotz der Unrechtsgeschichte des Menschen Leben möglich sein. Dazu schließt Gott seinen Bund mit dem Menschen, der Menschheit als Ganzer.

[Zwischenstück 2: Baningheti/Preisen lasst uns Gott, den Herrn]

5. Leben unter dem Bund

  • Versuchen wir nun für uns zu sehen, was es bedeutet, unter dem Regenbogen zu leben. Denn der Bund mit Noach ist nach der Bibel der Bund mit der ganzen Menschheit und übersteigt daher den Geltungsbereich des Bundes, den Gott mit Israel am Sinai geschlossen hat. [Deswegen verbietet m. E. das Apostelkonzil den Nichtjuden den Genuss von Blut, wie es nach dem Noachbund bestimmt ist (vgl. Gen 9,4 und Apg 15,20), während die Nichtjuden von den rituellen Bestimmungen des mosaischen Gesetzes freigestellt sind.]
  • Der Noachbund ist sozusagen Gottes Plan B für seine Schöpfung. Gewollt hat Gott die Welt ohne Gewalt. Nun schließt er einen Bund unter der Rahmenbedingung, dass die Gewaltfreiheit nicht mehr gegeben ist. Auch dies betrifft Mensch und Tier.
    • Für den Bereich des Menschen soll die Gewalt eingedämmt werden. Die Lebensbedingungen des Menschen sind erschwert, die Natur ist unberechenbar geworden. Gewalt unter den Menschen wird ohne Ansehen der Person unter Strafe gestellt werden, damit sie nicht überhand nimmt: "Wenn aber euer Blut vergossen wird, fordere ich Rechenschaft, und zwar für das Blut eines jeden von euch." (Gen 9,5).
    • Zugleich erklärt die Bibel damit implizit, warum es in der Welt der Tiere Gewalt gibt. Der Löwe frisst nicht mehr friedlich Stroh, sondern reißt das Lamm. (Das allerdings wird innerhalb der Bibel kaum weiter reflektiert.)
    • Das Verhältnis des Menschen zum Tier wird ausdrücklich geregelt: Nach Gen 9,3 ist der Mensch im Noachbund ermächtigt, Fleisch zu essen. Wurde in der Schöpfungsordnung nach Plan A vorausgesetzt, dass Mensch und Tier in Frieden zusammen leben, so ist die Welt nach Plan B, wie sie durch die Gewalt des Menschen geworden ist, keine vegetarische Welt mehr.
  • Anfangs wurde gewarnt, die Rationalität und Bilderwelt der Bibel seien uns fremd. Das ist jetzt wohl vollends deutlich. Keiner muss diese Rationalität teilen. Jeder kann anderer Meinung sein als die Bibel. Nur, wer sich auf die Bibel beruft, muss sich auf die Bibel einlassen, das Gemeinte erfassen und in unsere Vorstellungswelt übersetzen: Nach der Bibel gibt es kein göttliches Gebot der absoluten Gewaltfreiheit oder des Verzichtes auf Fleischgenuss. Unrecht darf bestraft werden und Mensch wie Tier dürfen sich vom Fleisch anderer ernähren. Es sei nur schon hier darauf hingewiesen, dass dies nicht bedeutet, es gäbe keine biblisch begründete Gewaltfreiheit oder keinen biblisch begründeten Vegetarismus!
  • Vielmehr ist präzise dieses gesagt: In der Welt nach Plan B ist gewaltsame Strafe für Gewaltanwendung möglich, und können Fleisch- oder Allesfresser auch Fleisch anderer Lebewesen essen. Die Erzählungen der Urgeschichte im Buch Genesis Kapitel 1 bis 9 bieten eine narrative (erzählerische) Begründung dafür, warum das so (geworden) ist. Das ist also keine ethische Abhandlung, sondern eine "Erklärung", warum die Welt so ist, wie wir sie vorfinden. Zur Beantwortung ethischer Fragen hat uns Gott Vernunft gegeben und Sprache, um miteinander um die besten Wege zu streiten.

6. Der Weg zu neuem Heil

  • Das alles mag ernüchternd klingen. Hat der Glaube an den barmherzigen Gott resigniert vor der Gewalt und sich arrangiert mit den Verhältnissen, wie sie nun mal so sind? Das Motto des Kirchentages "...damit ihr Hoffnung habt." stünde schlecht da.
  • Das Gegenteil ist der Fall. Denn nun erst beginnt die eigentliche Geschichte des Heils. Alles, was auf die Urgeschichte, die Erklärung des "Ist" im Buch Genesis 1 bis 11, folgt, ist Gottes Antwort auf die Gewalt. Wir finden im ganzen Rest der Bibel Gottes Strategie bezeugt, wie die Folge der Urgeschichte in der Heilsgeschichte überwunden werden soll. Deswegen wechselt die Bibel jetzt auch von der symbolischen Urgeschichte beginnend mit Abraham in die reale Geschichte der Menschen, so sehr die historischen Fakten zunächst noch wenig greifbar im Nebel der Geschichte liegen. Urgeschichte ist erzählende Beschreibung des Ausgangszustandes. Heilsgeschichte ist heilende Geschichte des Weges, den Gott mit uns Menschen geht, und hat die Heilung der ganzen Schöpfung zum Ziel: "Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. Die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat; aber zugleich gab er ihr Hoffnung: Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes" (Röm 8,19-21).
  • Es wäre jetzt an Ihnen die Bibel aufzuschlagen und diese Geschichte nachzulesen; unsere Zeit hier ist aber begrenzt. Deswegen will ich zum Abschluss nur drei grobe Striche zeichnen.
  • Erstens: Wir sind keine Individuen
    • Seit Abraham geht es um Berufung einzelner zum Heil für alle. "Ein Segen sollst du sein" (Gen 12,2), sagt Gott zu Abraham, den er beruft. Der Weg Gottes zur Heilung der Welt ist nicht die völlig Vernichtung in einer Flut, sondern die Berufung des einen Menschen Abraham, des einen Volkes Israel unter allen Völkern und dann schließlich des einen Volkes der Kirche aus Israel und allen Völkern.
    • Diese Berufung ist Erwählung aus Gnade und zugleich der Auftrag, ein Segen zu sein. Wir sind also nie für uns selbst in der Taufe zum Christsein berufen, sondern immer, um ein Segen für alle zu sein: für das Ganze der Kirche und als ganze Kirche aller Getauften für diese Welt und sogar die ganze Schöpfung.
    • Für Gott ist der Mensch ganz und gar Person nach seinem Abbild, aber nie nur Individuum, auf sich selbst beschränkte Monade, die ihr eigenes Leben für sich lebt. Wir sind Person, können Gott und einander von Du zu Du begegnen. Was der eine ist oder tut, hat Bedeutung für alle. So sehr Noach eine symbolische Figur ist, so sehr drückt sich in ihm aus, was jeder Mensch ist. In jedem Menschen ist die Menschheit gegenwärtig und jeder Mensch trägt Verantwortung dafür, ob er die Arche als Ein-Mann-Ruderboot, als Ein-Clan-Kahn oder als den großen "Kasten" baut für Mensch und Vieh.
    • Gottes Schöpfung kann nur so, in der Begegnung von Person zu Person noch zu ihrem Ziel kommen, weil nur in der Begegnung sich Freiheit und Liebe realisieren. Gott führt die Schöpfung nicht gegen ihren Willen - durch Staatsstreich von oben oder Herabsendung eines Vorschriftenkataloges  - zum Ziel, sondern auf dem mühsamen Weg durch die Geschichte und dem jeweils neuen "Ja" von Menschen auf das Heilsangebot Gottes: Über Abraham und Mose, über das Volk Israel von dessen vertieften Beten das Buch der Psalmen zeugt, über das Scheitern neuerer Selbstermächtigung in den Königen, über die Propheten bis hin zu Maria, der Tochter Israel, die ihr "Ja" dazu sprach, dass Gott in unserem menschlichen Fleisch uns begegnet.
  • Zweitens: In Christus hat eine neue Schöpfung begonnen
    • "Wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden" (Röm 15,22). Die neue Schöpfung beginnt am neuen ersten Tag, dem Tag der Auferstehung. Denn an diesem Tag bestätigt Gott seinen Sohn, der Gewalt nicht mit Gewalt beantwortet hat, sondern die Gewalt bis an das Kreuz getragen hat.
    • Das ist keine neue Gesellschaftsordnung eines Staates ohne Militär und Gefängnis, sondern neuer Geist aus einem Menschen, der im Vertrauen auf Gott ("Glauben") bei sich selbst anfängt, der Gottes Treue traut, die sich in der Auferstehung zeigt. Daher können Menschen im Blick auf den Auferstandenen selbst gewaltfrei bleiben. Sie verschweigen sie nicht, sondern lassen sie an ihrem eigenen Kreuz sichtbar werden und geben zugleich Zeugnis davon, dass Gottes liebende Ohnmacht sich als mächtiger erweist, als alle Macht dieser Welt.
    • Die neue Schöpfung ist also Berufung durch Gottes Geist inmitten einer Welt, die nach wie vor nach anderen Prinzipien funktioniert. Deswegen wird auch jeder Versuch eines "christlichen Staates" im Tugendterror enden, weil erst Gott selbst am Ende der Zeiten vollenden wird, was aber doch in der Berufung Einzelner schon hier zu erfahren ist.
    • Nicht jeder Christ ist zum Märtyrer berufen, der in seinem Sterben die Macht der Ohnmacht bezeugt, manche aber wohl. Es ist die Aufgabe eines jeden Christen, an dem Ort, an den er oder sie gestellt wurde, nicht in Individualität unser privates Heil zu suchen, sondern zu suchen, wo jede und jeder berufen ist, durch "kleinen Widerstand" Zeugnis zu geben: Das Schweigen über das Unrecht zu brechen (und sei es innerhalb der Kirche!), auf eigenen Vorteil zu verzichten, lieber Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu üben. Das ist kein sittliches Gebot und kein ethisch verpflichtendes Prinzip, sondern Berufung Christus nachzufolgen.
  • Drittens: Wir stehen stellvertretend für alles Lebendige in Gottes Schöpfung
    • Den Bund hat Gott mit Noach und allem, was Leben in sich trägt geschlossen. Der Mensch ist in diesem umfassenden Bund das Gegenüber Gottes. Was über die Gewalt und die Macht der Ohnmacht unter Menschen gesagt wurde, gilt daher auch für das Verhältnis von Mensch und Tier.
    • So sehr die Bibel einen Hintergrund liefern mag für die uns heute bedrängenden ökologischen Fragen, so wenig ist sie ein Ersatz dafür, um die ethischen, politischen und naturwissenschaftlichen Fragen zu ringen. Dafür hat Gott uns den (hoffentlich vorhandenen) Verstand gegeben, unter den Bedingungen einer unvollkommenen Welt für Mensch und Tier zu denken.
    • Daneben gibt es aber die Berufung Einzelner als Zeichen der Hoffnung für alle. Denn so wenig es ein christliches Verbot gibt, Fleisch zu essen, so sehr gibt es eine originär christliche Berufung für Einzelne und einzelne Gemeinschaften vegetarisch zu leben. Christen können berufen sein, durch ihren Verzicht auf Fleisch an ihrem eigenen Leib sichtbar zu machen, was sein wird, wenn Gott die Welt vollenden wird. Das hat die Berufung zum christlichen Vegetarier mit den klassischen Berufungen zu tun, in denen Menschen berufen werden, ohne eigenes Einkommen und Vermögen oder im Zölibat ohne eigene Familie zu leben. Nicht weil es in dieser Welt verboten wäre, Fleisch zu essen, Eigentum zu haben oder in der Gemeinschaft einer Familie zu leben, sondern, weil Gott einzelne Menschen beruft. Er macht es ihnen möglich hier auf etwas zu verzichten in der Hoffnung und im Vorgriff auf die neue Schöpfung, in der alle eine Familie sein werden, keiner etwas sein eigen nennen muss und selbst der Löwe Stroh frisst wie das Lamm.
    • [Eine Nachbemerkung: Wie das Abendmahl Vorgriff ist auf die vollendete Kirche im himmlischen Hochzeitsmahl, so ist der "Neue Bund in seinem Blut" auch in diese Richtung zu verstehen: Christus löst dadurch, dass er sich selbst mit seinem Blut am Kreuz hingegeben hat, die alten Tier-Opfer ab. Er stiftet einen Neuen Bund, der nicht mehr vollzogen wird beim Fleischessen wie das alte Paschah-Lamm, sondern vegetarisch in Brot und Wein.]

[Vor dem Abschluss: Lied: Damit Ihr Hoffnung habt (14]]

Gebet
Wir preisen dich, Gott unser Schöpfer,
denn Du hast die Welt geschaffen
und in ihr das Leben gestiftet.
Auch angesichts der Gewalt des Menschen
hast du die Hoffnung nicht aufgegeben,
sondern einen Bund geschlossen mit allem was lebt
und die ein Volk berufen,
mit dem du einen neuen Anfang machst,
zum Segen für alle Völker und die ganze Schöpfung.

Wir bitten dich, barmherziger Gott,
du hast uns in der Taufe berufen, dein Volk zu sein.
Offenbare deine Wege für unsere Zeit.
Führe durch deinen Heiligen Geist
die eine Kirche der Getauften in ihrer Verschiedenheit
wie es dein Wille ist, zum Segen für diese Welt.
Zeige jeder und jedem von uns,
in welcher Weise und an welchem Ort du uns berufst,
deinem Sohn nachzufolgen, der unter uns Mensch geworden ist,
damit diese Welt zu dir findet, der du unser guter Vater bist
in Zeit und Ewigkeit. Amen.

Mit den Worten, die Christus uns gegeben hat, beten wir:
Vater Unser....

[Zum Abschluss: We are marching in the light (154]]

Martin Löwenstein SJ, Pfarrei St. Ansgar „Kleiner Michel", Hamburg
http://www.Martin-Loewenstein.de - Martin.Loewenstein@Jesuiten.org