Predigten von P. Martin Löwenstein SJ

Predigt 1. Adventssonntag Lesejahr A 2001 (Jesaja)

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2. Dezember 2001 - Hochschulgottesdienst Dom Frankfurt a.M.

1. Meine Zeit

  • Sollte ich in einer Zeichnung mich auf meinem Lebensweg abbilden müssen - ich, der ich nicht zeichnen kann -, so würde ich mir spontan vermutlich eine Linie vorstellen: die Zeit, und darauf einen Menschen: mich, unterwegs auf dieser Linie der Zeit. In welche Richtung würde die Gestalt blicken, die da geht? Ich vermute, jeder von uns würde die Gestalt nach vorne schauen lassen: der Zukunft zugewandt.
    Ganz unabhängig davon ist, ob ich mit froher Mine und weit ausholendem Schritt der Zukunft entgegeneile, oder ob mir diese Zukunft mehr Angst und Sorge bereitet.
  • So spontan das Bild "Ich auf meinem Lebensweg" das Gesicht gen Zukunft ausgerichtet zeichnet, so fragwürdig ist diese Darstellung. Sie trifft mehr unser Wunschbild von uns selber, als unsere Realität. In Wirklichkeit sind wir ach so fortschrittsvernarrte Menschen zumeist mit Blick nach hinten auf der Zeitachse aufgestellt. Die Zukunft ist das, was wir nicht sehen können. Was wir sehen - denn hinterher ist man immer schlauer! - ist das vor uns Liegende: Die Prachtbauten oder auch nur die Trümmer unseres gewesenen Lebens. Die Vorstellung ist paradox: Nicht die Zukunft, die Vergangenheit liegt vor uns. Die Zukunft hingegen ist im Rücken der Zeit. Wir sehen sie nicht, und auch die Vorstellung, die wir von ihr haben, unsere Zukunftsphantasien, bestimmen das Leben oft weit weniger als das, was schon war und was nun als Ergebnis "vor" uns liegt.
  • Menschen und ganze Völker lassen sich bestimmen durch das, was geronnene Geschichte ist. Die Vergangenheit hält uns fest. Es ist paradox: Im Sog der Vergangenheit trudeln Menschen in die Zukunft.
    Nirgendwo ist dieses Paradox so augenfällig wie beim Phänomen des Nationalismus. Da wird Vergangenheit ausgegraben und konstruiert, um nur ja in der Zukunft die Grenzen fest zu zurren, die uns angeblich durch die Vergangenheit auferlegt sind. Diese Vergangenheit fest im Blickfeld, stürmen ganze Völker rückwärts voran.
    Nehmen Sie Ihr eigenes Leben in den Blick. Wird es da so viel anders sein? Es ist kein Privileg des Alters vergangenheitsorientiert zu sein. Die Fanatischsten sind die Jungen, die jungen Männer allzumal. Aber auch das Phlegma, das im Blick auf die Vergangenheit Menschen am Boden festkleben lässt und ihnen die Zukunft verschließt, auch dieses ergreift allzu oft jüngere.

2. Ende der Tage

  • "Am Ende der Tage wird es geschehen." Das klingt nach Sankt-Nimmerleinstag. Ist es aber nicht. Der Prophet Jesaja spricht höchst gegenwartsbezogen.
    Das Volk Israel, zu dem der Prophet spricht, ist weit davon entfernt, bedeutend zu sein. Andere bestimmen über sein Schicksal. Andere Götter hat die Welle des Erfolgs nach oben getragen. Man fühlt sich in Israel auf dem absteigenden Ast.
    Das ist die Zeit, in der die Menschen von früher sprechen. Früher war es anders. Früher war es besser. Das Selbstmitleid mischt sich mit hochnäsiger Arroganz gegenüber der Gegenwart. Das Ergebnis ist die Unfähigkeit zur Zukunft.
  • Vielleicht sehe ich zu viel dieser Stimmung in der Kirche von heute. Mir scheint aber, Jesaja habe es mit eben einer solchen Stimmung zu tun gehabt zu haben.
    In diese Stimmung des wehleidigen Blicks auf die ach so goldene, ach so verflossene Zeit hinein spricht Jesaja vom Ende der Tage. Die Zeit, die uns rückwärts gewandten Menschen aus dem Blick geraten ist, die Zukunft, verkündet der Prophet als die Zeit Gottes.
  • Am Ende der Tage zeigt sich die andere Seite der Gegenwart. Vor Gott verstellt die Vergangenheit, erst recht die Glorifizierung der Vergangenheit nicht die Zukunft. Damals, so schwärmen die Reaktionäre, war das Heilige Volk noch stark und geschlossen. Am Ende der Tage, sieht der Prophet, werden alle Völker zusammenströmen. Damals, so erzählen stolz die alten Frontkämpfer, war der Tempel noch der Mittelpunkt. Am Ende der Tage, verheißt Gottes Prophet, wird nicht mehr Volk gegen Volk stehen.

3. Advent

  • Die Heilige Schrift hat die Erinnerung an die Glanzzeit Israels bewahrt, als in Jerusalem noch mächtige Könige herrschten. Aber die Bibel hat auch die Kritik an diesen korrupten Machthabern in den Kanon der Heiligen Schriften aufgenommen. Und schließlich ist es die Zeit der Propheten, in der Gott sein Volk - treu seiner Verheißung - die Erfüllung der Zeit verheißt.
  • Advent ist Zeit der Ankunft. Nicht wir gehen, den Blick stramm geradeaus auf der Linie des Lebens in die Zukunft. Die Fülle der Zeit kommt uns entgegen. Gott kommt uns entgegen und erreicht uns in der Gegenwart. Dort ist Gott es, der unseren Blick wendet.
    Nicht durch vergangene Siege, nicht durch vergangene Niederlagen sind wir festgelegt. Die Zeit ist offen nach vorne. Wir mögen sie nicht sehen. Der Engel der Geschichte mag blind sein ihr gegenüber. Gott aber kommt uns aus diesem Dunkel entgegen. Das Licht des Adventes, seiner Ankunft, ist angezündet.
  • Adventlich glauben heißt, die Geschichte meines Lebens mit Gott neu anzupacken. Adventlich glauben heißt, nicht im Rückblick auf das Trennende, das Feststehende, das Gefügte, sondern im Ausblick auf den kommenden Christus zu leben. Wenn Weihnachten uns dazu gerinnen würde, reine Erinnerung an Vergangenes zu sein, hätten wir den Advent nicht genutzt. Wenn wir uns einen Neuanfang zutrauen, können wir Gott an unserer Seite entdecken. Christus ist der Kommende. Amen.